Liebe Schwestern und Brüder!
Seit Wochen hält uns ein Virus in Atem. Viele Menschen haben Angst, wie sich diese Pandemie weiter entwickeln wird, ob die Situation außer Kontrolle gerät, ob noch genügend Betten in den Krankenhäusern vorhanden sein werden, ob der Virus mutiert, ob man erkranken wird, ob man überleben wird. Viele Veranstaltungen wurden abgesagt. Die Kinos und Theater sind leer. Wirtschaft und der Tourismus leiden. Die Börsen fahren Berg und Tal. Kitas und Schulen sind geschlossen. Der öffentliche Nahverkehr ist im Ferienbetrieb. Das öffentliche Leben steht gespenstisch still – auch in unserer Kirche. Und niemand weiß, wie lange dieser Zustand andauern wird.
Die schnelle Ausbreitung des Coronavirus ist der hohe Preis, den wir momentan für unsere globalisierte Welt mit all ihren Vorteilen zahlen müssen. Wir sind heute gut vernetzt, wir sind viel unterwegs, wir kommen per Flugzeug schnell vom einen zum anderen Ende der Welt – bzw. von Frankfurt nach Berlin –, wir importieren und exportieren viele Güter und schleppen so manches ein.
Tatsächlich: Wir sind global abhängig voneinander, aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch menschlich.
Vor allem ältere und gesundheitlich schwächere Menschen, die zur sogenannten Risikogruppe gehören, sind jetzt besonders auf uns angewiesen. Unsere Großeltern, die wie in einem Käfig eingesperrt sind, sind jetzt auf uns angewiesen. Menschen, die in Quarantäne sind und möglicherweise niemanden haben, der sie mit Lebensnotwendigem versorgt, sind jetzt auf uns angewiesen. Ärmere Menschen, die sich nur durch Lebensmittel- und Kleiderspenden einigermaßen über Wasser halten können, sind jetzt auf uns angewiesen. Bettler auf der Straße, denen niemand zur Zeit einen Euro einwirft, brauchen uns jetzt.
Was wirklich wichtig ist, zeigt sich aktuell sehr deutlich. Erinnern Sie sich noch an das wochenlange politische Theater in Thüringen? An den never ending Brexit, an das Scheitern der Pkw-Maut, an den Skandal wegen des Berliner Flughafens, an Stuttgart 21, an die Renovierung von Notre Dame, an innerkirchliche Querelen, an den letzten Streit in der Familie? Was haben wir uns doch darüber (künstlich) aufgeregt! Aber aus der Sicht von heute ist vieles davon Schnee von gestern.
Die Coronakrise ist ein schmerzhafter Denkzettel an die Menschheit - und Gott lässt sie zu, ja! Wir erkennen, dass – wie in den alten biblischen Geschichten vom Baum der Erkenntnis und vom Turmbau von Babel – jegliche Form von Egoismus, Größenwahn, Profitgier und Geldverschwendung nicht in Ordnung sind. Wir spüren hautnah, wie klein wir eigentlich vor dem unendlichen und allmächtigen Gott sind und bleiben.
Die Welt ist aus den Fugen geraten. Manche Länder treten aus Völkergemeinschaften aus, um sich als Insel von den Nachbarn abzuschotten. Manche ziehen Mauern hoch, um sich vor Elend und Krieg geflüchtete Menschen vom Hals zu halten? Weltweit werden neue Atomkraftwerke gebaut, statt auf erneuerbare Energien zu setzen, und nehmen Atommüll in Kauf, der das Verglühen der Sonne in einigen Milliarden Jahren übererleben wird. Andere investieren Unsummen in Waffen, Panzer, Raketen, Wahlkämpfe und atomare Aufrüstung – klar, zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit bzw. des „Gleichgewichts des Schreckens“ -, um Feinden zu zeigen, wo die Grenzen liegen.
Die Ironie der Geschichte ist, dass uns nun durch einen kleinen fiesen Virus klar wird, wo unsere eigentlichen Grenzen liegen, und wie wir trotz unserer so fortschrittlichen technischen Fähigkeiten in existentieller Hinsicht ziemlich machtlos sind und auch bleiben. Es ist an der Zeit, umzudenken, umzukehren und neue Prioritäten zu setzen. Die wirtschaftliche Situation von Menschen in ärmeren Ländern zu verbessern, die Fluchtursachen zu bekämpfen, zerstörte Städte wiederaufzubauen, den Umweltschutz voranzutreiben, für faire Löhne zu kämpfen und mehr Geld in die medizinische Forschung zu stecken, einen Familienkrach zu klären, ist dringlicher. Es gäbe noch unzählige weitere gute Beispiele, was wir jetzt tun können.
Es ist die intensivste Fastenzeit, die ich je erlebt habe. So viele Menschen denken um und fasten Unwesentliches. So viele lernen plötzlich wieder, mit dem Herzen zu sehen. So vielen wird bewusst, wie kostbar, aber auch zerbrechlich das Leben ist und wie sehr wir Verantwortung für andere Menschen und unsere Schöpfung haben. So viele Menschen schenken anderen auf einmal mehr Zeit, rufen an, fragen, ob sie Hilfe brauchen, organisieren Nachbarschaftshilfe. Ein guter Anfang ganz im Sinne Jesu! Ob dies nach der Überwindung der Coronakrise auch so weitergehen wir, wird sich zeigen.
Die Vorstellung, dass alle Länder der Welt jemals so etwas wie eine echte menschliche Weltgemeinschaft sein werden, in der die eigenen Interessen nicht im Vordergrund stehen, ist sicherlich eine Utopie. Aber aus Träumen kann Wirklichkeit werden. Auch Jesus Christus hielt an seinem Lebenstraum der Verwirklichung des Reiches Gottes schon hier auf Erden fest. Selbst der Tod und das Böse konnten ihn nicht besiegen. Am Ende von Leid und Kreuz stehen die Auferstehung und das ewige Leben. Dies feiern wir an Ostern. Wir sind auf Gott angewiesen, auf seine Erlösung, auf seine Gnade.
Vor diesem Hintergrund sollten wir Christen wegen Corona nicht in Panik verfallen. Hysterie hilft uns nicht weiter. Halten wir uns an die Abstandsregeln. Waschen wir uns die Hände und beten währenddessen ein Vaterunser, dass Gott uns hilft, diese Krise zu überwinden. Eine Frucht aus den Gaben des Heiligen Geistes ist übrigens Langmut. Man kann dieses tiefsinnige alte Wort mit „lange nicht den Mut verlieren“ übersetzen. Langmütig sein heißt, zu kämpfen, dabei einen kühlen Kopf zu bewahren und niemalsdie Hoffnung zu verlieren. Dies ist momentan wohl das einzige Gegenmittel, das wir haben.
Bitte bleiben Sie bzw. werden Sie gesund!
Ihr Pfarrer
Michael A. Leja