Christmette - Pfr. Stefan Schäfer

Datum:
Mo. 24. Dez. 2012
Von:
Pfr. Stefan Schäfer

Liebe Schwestern und Brüder,


am Abend des 24.Dezember 1914 reißt die Wolkendecke über Flandern Schlachtfeldern auf. Der Himmel wird sternenklar und der Vollmond beleuchtet die Kraterlandschaft zwischen den Schützengräben, in denen sich deutsche und britische Soldaten verschanzt haben.
Am Abend dieses 24. Dezember 1914 beobachtet der britische Gefreite Frederick W. Heath in trübe Gedanken versunken, krank von Heimweh, durch eine Luke die feindliche Stellung, die Deutschen, die sich etwa 200 Meter entfernt eingegraben haben. Plötzlich flackert auf der Brüstung des gegenüberliegenden Grabens ein Licht auf. „Ein Flackern in der Dunkelheit", schreibt der Gefreite Frederick W. Heath in einem Bericht, der wenige Wochen später in einer britischen Zeitung erscheint, „ ein Licht an der feindlichen Linie zu dieser Zeit war so selten, dass ich es gleich meldete."
Doch noch während er die Meldung weitergibt, geht an der deutschen Linie ein Licht nach dem anderen an. Es sind brennende Kerzen auf kleinen Tannenbäumen, die dort auf die Böschung der Gräben gestellt werden. Und dann hört er eine Stimme, eine deutsche. Ganz nah scheint sie ihm, so nah, dass er sein Gewehr entsichert. „English soldier", ruft sie, „English soldier, a merry Christmas, a merry Christmas!"
Gross sind die Angst und das Misstrauen, tief verwurzelt ist das Feindbild. Aber etwas anderes ist in diesem Augenblick mächtiger und setzt sich gegen den Befehl der Offiziere, nicht zu antworten, still zu bleiben, durch: „ Überall an unserer Linie", schreibt Heath, „hörte man Männer, die den Weihnachtsgruß des Feindes erwiderten. Wie konnten wir dem widerstehen, uns gegenseitig schöne Weihnachten zu wünschen."

Die Einzelheiten sind umstritten. Die Ereignisse lassen sich nicht mehr genau rekonstruieren.
Tatsache ist, dass an diesem Heiligen Abend des Jahres 1914 fast überall an der Westfront die Waffen schwiegen, dass in den Schützengräben Weihnachtslieder angestimmt wurden, die von der anderen Seite mit Applaus und mit Liedern aus der eigenen Heimat beantwortet wurden, dass die Soldaten zunächst vereinzelt, dann in immer größeren Gruppen aus ihren Gräben stiegen, um sich im Niemandsland zwischen den Linien zu begegnen:
Geschenke wurden ausgetauscht, Bilder der Lieben daheim herumgereicht, eine Waffenruhe für den kommenden Tag vereinbart.
Von gemeinsamen Fußballspielen wird berichtet. Und davon, dass bei dem Dorf Fromelles, westlich von Lille, sogar ein Gottesdienst gefeiert wurde.
In seinem Tagebuch notiert einer der Soldaten:
„Die Deutschen standen auf der einen Seite zusammen, die Engländer auf der anderen. Die Offiziere standen in der vordersten Reihe, jeder hatte seine Kopfbedeckung abgenommen.
Ja, ich glaube, dies war ein Anblick, den man nie wieder sehen wird."

Der Verfasser sollte recht behalten. Unter Androhung drastischer Strafen unterbanden die Befehlshaber beider Seiten jede weitere Verbrüderung mit dem Feind.
Als der Bericht des Gefreiten Frederick W. Heath in der Zeitung erschien, wurde bereits wieder geschossen. Die Spur des Verfassers verliert sich. Ob er den Krieg überlebt hat, ist nicht bekannt.

Der Weihnachtsfriede des Jahres 1914 ist eine Episode in einem fürchterlichen und grausamen Krieg geblieben. Ein kurzer, kaum mehr greifbarer Moment der Hoffnung. Ein gleich wieder ersticktes Aufflackern der Sehnsucht nach Menschlichkeit inmitten der Verwüstung.
Den Geschichtsbüchern ist dieses Ereignis kaum eine Fußnote wert. Sie nennen lieber die Namen der Staaten- und Schlachtenlenker, versuchen, deren Gründe und Motive zu verstehen und beschreiben die Mächte und Interessen, die diese „Großen" der Geschichte zu gestalten meinen, während sie oft in Wahrheit doch nur von ihnen beherrscht und getrieben sind.

Und doch hat es das wirklich gegeben: diesen kleinen Frieden mitten im großen Krieg. Und etwas in uns wehrt sich dagegen, dieses Ereignis für weniger groß und bedeutsam zu halten als die Entscheidungen und Taten der Generäle und Politiker.
Nur weil diese Geschichte uns anrührt, ist sie deshalb noch lange nicht kitschig und falsch. Und obwohl es so unwahrscheinlich klingt wie ein Märchen, ist es doch wahr, dass dieses Wunder sich wirklich ereignet hat.
Dass es also möglich war.
Die bald wieder gelöschten Kerzen auf den Schützengräben weisen zuverlässiger einen Weg als alle Aufmarschpläne der Generalstäbe und wahrscheinlich auch als manche politische Maßgabe heute.

„In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien."

Auch das Weihnachtsevangelium scheint mit einer Verbeugung vor den Großen der Welt und vor ihren Taten zu beginnen. In Wahrheit aber sind der mächtige Kaiser in Rom und sein Statthalter längst zu Fußnoten einer ganz anderen Geschichte geworden.

Sie beginnt weitab von den Zentren der Macht, im unbedeutenden Betlehem mit dem Kind in der Krippe und mit den Namenlosen und Kleinen, den Hirten, denen dieses Kind als Zeichen geschenkt wird, das sie verstehen:
als das Aufleuchten der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes in Armut und Niedrigkeit und in einer kalten, zerrissenen Welt. Und die darin den Grund einer größeren Hoffnung erkennen und eine Orientierung, die weiterführt:
Wie mächtig die Gewalt und das Unrecht auch scheinen, wie radikal das Sinnwidrige und Böse auch werden mag, die Güte ist tiefer und reicht weiter. Sie ist in der Welt. Und wirkt fort in allen, die dieser Wahrheit sich öffnen:
Der Botschaft der Weihnacht, die auch uns, die wir die heilige Nacht 2012 gottlob in Frieden und Sicherheit feiern dürfen, heute verkündet wird. Sie spricht von der Kraft, die Menschlichkeit und Güte entfalten und davon, wie weit sie uns tragen könnten - über alles Trennende und die Grenzen, die wir gegeneinander ziehen, hinweg, bis dahin, selbst noch im Gegner und vermeintlichen Feind den Mitmenschen, unseren Nächsten zu erkennen.

Und wenn dann auch wir das Visier hochklappen und die „Kopfbedeckung abnehmen", weil wir in der Tiefe unseres Herzens wissen, dass es keinen Größeren gibt als dieses Kind, in dem uns Gottes Güte begegnet, mitten in der Nacht, wie ein aufleuchtendes Licht, dann trifft sie auch uns, die Botschaft der Engel vom Frieden auf Erden und bei den Menschen seiner Gnade.

Amen.