Mehr Madonnen als Kneipen

Hausmadonna
Hausmadonna
Datum:
Do. 5. Mai 2016
Von:
Siegfried Kirsch
Dass es in Mainz früher mehr Hausmadonnen gab als Kneipen, ist ein Bonmot, das man gerne glauben will. Von den mehr als 200 in der Innenstadt haben viele den letzten Krieg nicht überlebt. Aber es kamen seitdem auch neue wieder hinzu.

Der Passant, der mit den Augen nur auf seinem Smartphone klebt, kann sie nicht sehen, so viele dieser Statuen an den Wänden und Ecken zahlreicher Häuser auch stehen.

Die verdienstvolle Zusammenstellung aller Mainzer Hausmadonnen, die Annette Wöhrlin 2008 als Buch („Mainzer Hausmadonnen") herausgebracht hat, muss nun ergänzt werden. Denn pünktlich zum Marienmonat Mai erschien nun eine neue in der Stephanskirche und steht stolz im blumengeschmückten Altarraum auf einem drapierten Tisch neben der Osterkerze. Sie ist der Tauberbischofsheimer Madonna von Tilmann Riemenschneider nachempfunden. Deren Schöpfer hat seine „Madonna mit dem Kind" in einer Zeit geschnitzt, als viele Ausstattungsgegenstände entstanden, die heute die Kirche schmücken, zwischen 1510 und 1520.

In kunstvoll gedrehten Zöpfen reicht ihr Haar, teils offen, teils verdeckt, bis zum Arm hinunter; ihr Gesicht zeigt Gelassenheit und Würde, der reiche Faltenwurf des Gewandes ist teils rund, teils zackig. Sie steht auf einer angedeuteten Mondsichel, das Jesuskind auf ihrem rechten Arm
bewegt sich lebhaft. Fern jeder Abgehobenheit und Idealisierung hat der moderne Bildhauer Riemenschneiders Realismus gut wiedergegeben.

Pfarrer Stefan Schäfer, der die Sandstein-Statue im Gottesdienst weihte, sagte in seiner Predigt: „Auch wer der Botschaft des christlichen Glaubens ganz fremd gegenübersteht und mit der Verehrung Mariens gar nichts mehr anfangen kann, versteht immerhin, welche Aussage da getroffen ist: ‚Gott ist nicht fern‘ verkünden die Hausmadonnen von Mainz. In seiner Menschwerdung, der Geburt aus der Gottesmutter Maria, ist er unwiderruflich an unsere Seite getreten." Wer ihn wie Maria annehme, für den werde der Glaube ganz konkret und der Weg nicht weit vom zukünftigen Standort, nahe beim Gautor, zur Zitadelle, zum Gebäude der Pfarrer-LandvogtHilfe und zu den Wohnconntainern, wo Obdachlose und Flüchtlinge anzutreffen seien.

Die neue Madonna steht nur vorübergehend im Altarraum, ihren endgültigen Platz wird sie in einer Ecknische des Hauses an der Ecke Große Weißgasse / Am Schottenhof finden. Seine Besitzer haben das Anwesen vor 30 Jahren erworben, es in seinem ursprünglichen barocken Baustil restaurieren lassen und lange Jahre nach einer geeigneten Figur gesucht. Da es aber auf dem Markt nichts Passendes gab, haben sie eine Werkstatt in Tschechien beauftragt, eine Nachbildung des Originals von Tilmann Riemenschneider zu hauen. „Diese Maria", so sinniert H. Götzky, Vater von drei Töchtern, „ist eine gestandene Frau, ernst und gedankenvoll, keine mädchenhafte Mutter, die den Ernst des Lebens noch nicht kennengelernt hat." Dass seit den 60er Jahren die Frau in Wirtschaft und Gesellschaft immer stärker in Erscheinung trete, lenke den Blick auch wieder auf diese Mutter, die ihre Entscheidung selbstbestimmt und aus freien Stücken getroffen habe.

Die rund 85 cm hohe Sandsteinstatue wird noch einen Sockel und ein kleines Vordach bekommen und nachts beleuchtet werden. Sie wird dann vorerst die Letzte einer langen Reihe von Mainzer Hausmadonnen sein. Die zu erst erwähnte in der Chronik der Stadt stammt aus dem Jahre 1250, als noch keine Smartphones die Passanten am Blick nach oben hinderten.