Die Option für die Armen stellt die materiell armen Menschen in den Mittelpunkt. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie, in der die Option für die Armen zuerst formuliert wurde, betont, dass Armut mit ihrem täglichen Leid die Zerstörung von Menschen, Familien und Völkern und damit letztlich Tod bedeute. Sie widerspricht damit dem biblischen Gott des Lebens, der in der gesamten Heiligen Schrift eine Vorliebe für die Missachteten und Schwachen hat und sich ihnen in Liebe zuwendet. Die Kirche hat den Auftrag, diese von Gott getroffene Option fortzuführen: „Diese göttliche Vorliebe hat Konsequenzen im Glaubensleben aller Christen“, schreibt Papst Franziskus in Evangelii gaudium (198).
Die Befreiungstheologie analysiert die Ursachen der Armut und scheut sich nicht davor, wie die biblischen Propheten, soziale Ungerechtigkeit und unterdrückende sozioökonomische Strukturen zu benennen. Die Armen sind dabei nicht Objekt einer paternalistisch agierenden Kirche, sondern selbst tragende, aktive Subjekte. Sie tragen ein „evangelisatorisches Potential“ (Puebla 1147) in sich, denn sie „kennen ... dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus“ (EG 198). Es geht in der Option für die Armen nicht um „ein zusätzliches soziales ‚Arbeitsfeld’ ..., es geht ihr vielmehr um den tragenden Grund, das verbindende und bestimmende ‚Vorzeichen’ vor allen kirchlichen Selbstvollzügen“ (Medard Kehl). Sie konkretisiert sich im alltäglichen Handeln, aber auch in der Symbolik und Kraft des liturgischen Geschehens: in der Feier von Abendmahl und Eucharistie als Erinnerung und Vergegenwärtigung der unbedingten Solidarität Christi mit den Armen und Leidtragenden.
Die „vorrangige Option für die Armen“ ist in den 60er- und 70er-Jahren in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie entstanden. Impulsgebend war die Forderung nach der „Kirche der Armen“, die Johannes XXIII. vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingebracht und von einer Gruppe von Konzilsvätern verfolgt wurde (aufgegriffen am stärksten in LG 8), sowie dann der vom Konzil geforderte Blick auf die im Licht des Evangeliums zu deutenden „Zeichen der Zeit“ (GS 4). Die Zeichen der Zeit wurden in Lateinamerika in der Armut, im Elend der Massen erkannt. Die lateinamerikanischen Bischöfe sprachen bei ihrer Konferenz in Medellín (1968) von einem „Vorrang“ der Armen. In den folgenden Jahren setzte sich in der Befreiungstheologie der Begriff der „vorrangigen Option für die Armen“ durch, den die Bischöfe dann in Puebla (1979) aufgriffen.
Die Option für die Armen bezieht sich auf die „reale Armut“ breiter Massen in Lateinamerika. Diese Armut zeigt sich in täglichem Leid, sie zerstört Menschen, Familien und Völker – letztlich bedeutet sie Tod. Sie widerspricht dem biblischen Gott des Lebens und wird deshalb als „strukturelle Sünde“ bezeichnet. Diesen Armen gilt der „Vorrang“. Die Bevorzugung der Armen hat nichts mit Exklusivität zu tun, sondern möchte betonen, wer in der Solidarität Gottes und in seiner Nachfolge der Kirche an erster Stelle steht. Erzbischof Oscar Romero formuliert: „Wenn sie von den Armen ausgeht, wird es der Kirche gelingen, für alle da zu sein“ (zitiert nach Gutiérrez, 298). Der Begriff „Option“ möchte den einerseits freiwilligen, gleichzeitig aber auch verpflichtenden Charakter einer Entscheidung hervorheben: Die Entscheidung muss jede*r einzelne aus freien Stücken selbst treffen. Es handelt sich aber nicht um eine beliebige Entscheidung, so wie auch die Liebe nichts Beliebiges ist – sondern um eine Option für Gott, der, wie sich in der gesamten Heiligen Schrift zeigt, eine Vorliebe für die Missachteten und Schwachen zeigt und sich ihnen in frei geschenkter Liebe zuwendet. Die vorrangige Option für die Armen ist daher eine „theozentrische und prophetische Option“ (Gutiérrez, 299). „Der Arme wird bevorzugt nicht etwa, weil er notwendigerweise moralisch oder religiös besser wäre als andere, sondern weil Gott Gott ist; ... und für ihn sind ‚die Letzten die Ersten’“ (Gutiérrez, 300).
Die lateinamerikanische Kirche hat die Armut im Licht des Evangeliums gedeutet und als dem Gott des Lebens widersprechend und damit als Herausforderung für christliches Engagement (die Befreiungstheologie betont den Primat der Praxis) und theologische Reflexion erkannt. Es geht in der Option für die Armen nicht um „ein zusätzliches soziales ‚Arbeitsfeld’ ..., es geht ihr vielmehr um den tragenden Grund, das verbindende und bestimmende ‚Vorzeichen’ vor allen kirchlichen Selbstvollzügen. ... Die zentralen Glaubensgehalte und -vollzüge werden grundsätzlich mit der konkreten gesellschaftlichen Situation der Armen verbunden. ... Ihre Perspektive und Erfahrung, ihre Hoffnung auf Heil und Befreiung gelten als Maßstab allen authentisch christlichen Sprechens und Handelns“ (Kehl, 244).
Die Befreiungstheologie analysierte die Ursachen der Armut und scheute sich nicht davor, wie die biblischen Propheten, die Ausbeutung durch die Mächtigen, die soziale Ungerechtigkeit und unterdrückende sozioökonomische Strukturen zu benennen –die Bischöfe sprachen schon in Medellín von einer „institutionalisierten Gewalt“. Die Option für die Armen fordert die aktive Begleitung des Volks im Kampf für die Menschenrechte. Sie hat daher gewaltige Widerstände unter den Mächtigen hervorgerufen; viele lateinamerikanische Christen bezahlten ihren Einsatz mit dem Tod. Allerdings: „Die wirkliche Verfolgung richtet sich gegen das arme Volk, das heute der Leib Christi in der Geschichte ist. Es ist das gekreuzigte Volk“ (O. Romero, zitiert nach: Kehl, 246).
Die Option für die Armen bedeutet, dass die Armen nicht länger Objekt einer paternalistisch agierenden Kirche sind, sondern selbst tragende, aktive Subjekte sind. Sie organisieren sich, um ihren Glauben zu leben und zu artikulieren und aus dem Glauben sowie dem Blick auf die Wirklichkeit entstehende Handlungsoptionen zu leben und sich für die Befreiung einzusetzen. Insbesondere die Erfahrungen der Basisgemeinden haben der lateinamerikanischen Kirche geholfen, das „evangelisatorische Potential der Armen zu entdecken“ (Puebla 1147). Ihnen gilt die Botschaft vom Reich Gottes in besonderer Form, daher sind sie auch besonderer Träger dieser Botschaft. Die Klugen und Weisen müssen in ihre Schule gehen.
Literatur:
- Gutiérrez, Gustavo: Die Armen und die Grundoption, in: Ellacuría, Ignacio/Sobrino, Jon (Hg.): Mysterium liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Band 1, Luzern 1995, 293-311.
- Kehl, Medard: Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 42011, 240-246.
- Kohlgraf, Peter: Nur eine dienende Kirche dient der Welt. Yves Congars Beitrag für eine glaubwürdige Kirche, Ostfildern 22015, 126-132.
Begriffsdefinition erarbeitet im TPT 1 Sozialrauorientierung und Sozialpastoral (04.03.2020).