Schmuckband Kreuzgang

Choralschola der Basilika Seligenstadt

Geschichte der Schola:
Die Schola der Basilikapfarrei St. Marcellinus und Petrus in Seligenstadt/Hessen wurde im Jahre 1955 vom damaligen Kaplan Guido Becker als Knabenschola mit Schwerpunkt Gregorianik gegründet. In den folgenden Jahren wurde sie weiter ausgebaut. Anfang der 60er Jahre erfolgte eine Trennung der Knabenschola in die Kinderschola, Jugendschola und die Jungmännerschola, die heutige Choralschola.
Die Schola heute:
Seit 1990 wird die Schola von Pascal Scholz geleitet. Proben sind projektbezogen am Dienstag (20:00 Uhr) im Edith-Stein-Saal des Pfarrzentrums und eine Stunde unmittelbar vor dem Gottesdienst.
Im Schnitt gestaltet die Schola einmal im Monat die Liturgie durch ihren gregorianischen Gesang; alle zwei Jahre (meist an Fronleichnam) findet eine Fahrt nach Südtirol ins Kloster Marienberg statt. In der Zeit der zahlreichen Besuche und Gegenbesuche zwischen Seligenstadt und Südtirol hat sich eine herzliche Freundschaft zwischen Konvent und Schola entwickelt.

Wir sind etwas über zwanzig Sänger mit einer Altersspanne von knapp 50 Jahren, was der zwanglosen Stimmung und der Geselligkeit keinen Abbruch tut. Einmal jährlich findet vor der Sommerpause (i.e. die großen Schulferien) ein Grillfest am Mainsälchen, direkt hinten an der Basilika statt.

Neue Sänger sind immer willkommen, müssen aber doch eine Zeit der Eingewöhnung durchlaufen, da der gregorianische Choral eine gewisse stimmliche Begabung und Eingewöhnung erfordert.

 

Kontakt: Pascal Scholz Tel. (06182) 829429

Die Geschichte der Gregorianik (8. bis 11. Jahrhundert )

Die ältesten Dokumente abendländischer d. h. westeuropäischer Musik sind die Niederschriften jener Gesänge, die man „Gregorianischen Choral“ nennt.
Gregorianischer Choral ist der einstimmige, unbegleitete Gesang der römischen Liturgie mit lateinischem Text. Die Bezeichnung „gregorianisch“ weist auf Papst Gregor den Großen hin, der von 590 bis 604 Bischof von Rom war und den man bis in unser Jahrhundert für den Autor dieser Gesänge hielt. Doch die Behauptung von der Autorschaft Gregors taucht erst zweihundert Jahre nach dessen Tod zum ersten Mal auf und stützt sich vor allem auf Johannes Diaconus, der um 870, also fast dreihundert Jahre nach dem Tod Gregors dessen Biographie schreibt. Historisch ist die These von Gregor dem Großen als Autor der gregorianischen Gesänge nicht haltbar.
Es gilt heute als sicher, dass der Gregorianische Choral, d. h. der gesungene Vortrag, der zur römischen Liturgie gehörenden Texte eine Umformung jener Melodien darstellt, auf die diese Texte wahrscheinlich schon vor Papst Gregor dem Großen und auch noch Jahrhunderte nach ihm in Rom gesungen worden waren, und die wir heute den „altrömischen Choral“ nennen. Er ist uns in drei Handschriften überliefert. Dieser altrömische Choral gelangt etwa um 754 ins Frankenreich. Pippin und Karl der Große waren bestrebt, die heterogenen völkischen Elemente ihres Reichs mit Hilfe des christlichen Glaubens und des nach römischem Vorbild gestalteten Gottesdienstes zusammenzuhalten. Pippin erbat vom Papst die für die Feier der römischen Liturgie notwendigen Bücher, das Sakramentar und das Antiphonar. Ersteres für den Priester mit den Texten der Gebete, das Antiphonar hingegen für die Sänger mit den Texten der Gesänge – aber nur mit Texten der Gesänge, denn eine musikalische Notation, eine graphische Form für akustische Signale gab es noch nicht. Um also Melodien für den Vortrag der Texte zu lernen, mussten diese vorgesungen und auswendig gelernt werden. Kantoren, die im Gefolge Papst Stephans II. aus Rom ins Frankenreich gekommen waren, mussten den fränkischen Kantoren Ton für Ton vorsingen. Als Orte, wo dies geschehen sein könnte, werden die französischen Städte Rouen und Metz genannt.
Das Erlernen des liturgischen Repertoires durch mündliche Überlieferung dauerte zu damaliger Zeit, wie Zeitzeugen berichten, etwa zehn volle Jahre. Etwas Unerwartetes geschah: die fränkischen Kantoren gaben das in so vielen Jahren mühsam Gelernte nicht sofort weiter, wie es doch der Wunsch und Befehl der staatlichen Autorität war, sondern formten und veränderten alle Gesänge völlig um. Es mussten mehr als 500 gewesen sein. Man kann sagen, sie wurden neu „vertont“.
So entstand aus dem „altrömischen Choral“ der „fränkisch - römische Choral“, der nun zusammen mit dem römischen Messritus über ganz Westeuropa verbreitet wurde. Der so durch kaiserliche Macht und Politik zur Alleingeltung erhobenen römischen Liturgie in fränkischer Klanggestalt fielen in den nächsten hundert Jahren alle anderen westeuropäischen Liturgien und damit auch Gesangstraditionen zum Opfer. Bestehen blieb von der zeremoniellen und klanglichen Vielfalt des christlichen Gottesdienstes im Westeuropa des ersten Jahrtausends neben der römischen Liturgie nur die Tradition von Mailand mit dem Ambrosianischen Choral, der bis heute in der Kathedrale von Mailand zu Ehren des großen Bischofs Ambrosius (339 – 397) gesungen wird.
Der neue umgeformte Gesang entstand ohne das Hilfsmittel schriftlicher Fixierung. Und wie es also kein Autograph eines gregorianischen Komponisten gibt, so kennen wir auch nicht den Namen derer, die die neuen Melodien geschaffen haben. Klar scheint, dass der umgeformte Gesang ein logisches und in sich schlüssiges Konzept zugrunde gelegen haben muss, dass auch denen einsichtig und nachvollziehbar gewesen sein, die nun die Melodien erlernten und ihrerseits weitergaben. Ein Prozess, der etwa hundert Jahre, also über mehrere Mönchsgenerationen hin andauerte. Erst dann, etwa ab dem Jahre 900, nach mehr als hundert Jahren und nahezu flächendeckender Verbreitung, tauchen erste Zeugnisse schriftlicher Fixierung der gregorianischen Gesänge auf.
Mit Beginn des 10. Jahrhunderts beginnt man in vielen Klöstern und religiösen Zentren Westeuropas zu schreiben. Diese ersten Niederschriften, die zwischen 930 und dem Jahre 1000 entstanden, bewiesen gleichzeitig eindrucksvoll, wie zuverlässig die Melodien in diesen ersten hundert Jahren ihrer mündlichen Verbreitung weitergegeben worden waren. Genaue Vergleiche der einzelnen Handschriften zeigen eine fast hundertprozentige Übereinstimmung. Doch wie merklärte man sich die Tatsache, dass man überall, wo man eine Niederschrift vornahm, eigen Zeichen erfand, statt einfach die Vorlage abzuschreiben. Heute haben wir Handschriften aus dem 10. und 11. Jahrhundert, die auf fast ein Dutzend verschiedene und voneinander unabhängige Schriftfamilien schließen lassen. Fast alle stellen das Auf und Ab der melodischen Bewegung mit Zeichen dar, die ihre Wurzel zu großen Teilen in den Gesten dessen zu haben scheinen, der die Sängergruppe leitete. Man nannte diese Zeichen deshalb auch „Neumen“ vom griechischen Wort neuma, die Geste, der Wink. Da sie auf genaue Darstellung der Tonhöhen verzichten, nennt man sie „adiastematisch“. Doch was man sich von der Erfindung der Schriftzeichen erhoffte, sollte sich nicht erfüllen. Anstatt einer wachsenden Unsicherheit, ja steigendem Unverständnis gegenüber den Texten der Gesänge vorzubeugen, beschleunigte die Erfindung der Schriftzeichen dieser Tendenz. Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis ist dieses Hilfsmittel erfunden. Dies sollte sich auch im Hinblick auf die Erfindung der Notation und den gregorianischen Choral bewahrheiten.
Auch andere Faktoren wirkten auf den gregorianischen Choral ein. Auf allen Gebieten drängte die Entwicklung weiter. Es entstanden Textvorlagen zu neuen Messen und für sie neue Melodien, die aber nicht die Qualität des alten Repertoires erreichten, nicht mehr von der inneren Logik geprägt waren. Eine ganz neue Art von Texten drängte sich in die liturgische Feier. Sie stammten nicht aus der Heiligen Schrift, sondern waren zeitgenössische Dichtung. Um Ihnen Eingang in die gottesdienstliche Feier zu verschaffen, wurden sie bestehenden Melodien unterlegt, vorzugsweise großen Tonketten, jedem Ton eine Silbe. Neue Texte schoben sich zwischen die Texte der traditionellen Gesänge, ergänzten und kommentierten sie. So entstanden neue Gesangsgattungen: die Sequenzen und Tropen.
Die Kirchenräume wurden immer größer, so dass man lauter und langsamer singen musste, um gehört zu werden. Das führte sogar soweit, dass Melodien an bestimmten Stellen verändert wurden, damit sie mit lauterer Stimme gesungen werden konnten. Da sich diese Veränderungen, wohl vom alemannischen Raum ausgehend, vor allem den Rhein abwärts verbreiteten, bekam diese Melodiefassung in neuerer Zeit den Namen „germanischer Dialekt“. Ganz besonders faszinierend aber wirkte eine akustische Neuentdeckung, die sich im 10. Jahrhundert langsam Bahn brach und Ohren und Herz der Menschen eroberte, der Zusammenklang verschieden geführter Stimmen. Zur bisher einzigen Melodiestimme erklingt nun gleichzeitig eine andere Stimme, die entweder in einem bestimmten Abstand parallel läuft, oder sich spiegelbildlich bewegt, oder einfach einen einzigen Ton als ruhenden Gegenpol singt. Das zweite Kapitel der europäischen Musikgeschichte begann, die Mehrstimmigkeit.

Prof. Godehard Joppich

Die Geschichte der Gregorianik (12. Jahrhundert bis heute)

Durch all diese Neuerungen, Veränderungen und Entwicklungen wurde die horizontale, frei schwingende Linie der gregorianischen Melodien nach und nach verlangsamt, gehemmt, ja beinahe gelähmt, und sie sollte ihre ursprüngliche rhythmische Freiheit nie wieder zurückgewinnen. Das spiegelt sich auch in den Handschriften wider: die linienlosen Neumen verschwinden bis auf  Schrifttyp sehr bald, und mit ihnen die Erinnerung an die frei schwingende Bewegung, die sie symbolisierten.
Die diastematischen Notationen hingegen werden in Wiedergabe der Tonhöhen immer genauer: zuerst ordnen sich die Zeichen um eine Linie, bald zwischen zweien schließlich vier Linien. Doch je perfekter die Diastematie wird, d.h. je genauer die Tonhöhenabstände werden, umso weniger sagen die Notationen aus über den Rhythmus. Einige dieser Notationen lassen zwar durch graphische Gruppierung noch einen gewissen Zusammenhang zwischen den einzelnen Tönen erkennen, in Einzelfällen bleibt auch noch die Bewegungsrelation von einem Ton zum anderen sichtbar. Die Tonhöhen werden aber auch als isolierte Punkte geschrieben, die bisweilen so zusammenhanglos nebeneinander stehen, dass schon ihr Anblick dazu verführt, jeden Ton gleich lang und gleich laut zu singen. Die Wandlung des Schriftbildes und die damit einsetzende graphische Nivellierung zog zwar einerseits die akustische Äqualisierung nach sich, sie war aber andererseits auch Folge derselben nach dem Prinzip: man schreibt, was und wie man singt, man singt aber auch so, wie man es geschrieben sieht.
Dem Schriftbild nach zu urteilen scheint der gregorianische Choral bereits ab dem 12. Jahrhundert viel von seiner ursprünglichen Vitalität eingebüßt zu haben und wurde im Verlauf der folgenden Jahrhunderte zu einem unansehnlichen kirchlichen Gesang, der in den Ohren der Humanisten des 16. Jahrhunderts sogar „barbarisch“ klang. In dem Maße nämlich, in dem Töne äqualisiert wurden, begannen sie, der Sprache Gewalt anzutun. Dass musste umso mehr als unerträglich empfunden werden, als die Musik gerade in dieser Zeit begann, Sprache auf höchst kunstvolle Art zum Erklingen zu bringen. Und so mehrten sich die Stimmen derer, die forderten, den gregorianischen Choral entweder ganz abzuschaffen oder von Grund auf umzuarbeiten. Ersteres war nicht möglich, da Rom gerade erst im „ Missale Tridentinum“ von 1570 die Alleingültigkeit der lateinischen Sprache im Gottesdienst und den Wortlaut  der Gesangstexte der Messe festgeschrieben hatte. So beauftragte der Papst zwei Schüler des großen Meisters Palestrina, Felice Anerio und Francesco Suriano, die gregorianischen Melodien zu überarbeiten. Diese Überarbeitung erschien im Jahre 1614 und hieß „Editio medicaea“, nach der Druckerei der Familie Medici, in der das Buch gedruckt wurde. Damit war der authentische gregorianische Choral auch in der Praxis zu Ende. Zwischen 1800 und 1900 sang wohl niemand mehr in Europa diese Melodien.
1833 wurde als eines der ersten Klöster in Frankreich Solesmes wiederbegründet. Auf der Suche nach den ältesten Zeugnissen der römischen Liturgie stießen die Mönche auf die Quellen des authentischen gregorianischen Chorals, von dem man, angesichts der bereits über zweihundert Jahre dauernden, nahezu weltweiten Verbreitung der „Editio medicaea“, nichts mehr wusste. Sie sind fasziniert von diesen Melodien, deren Alter und Echtheit sie auch wissenschaftlich sehr bald beweisen können, und setzen sich leidenschaftlich für die Wiedereinführung dieser Gesänge in die römische Liturgie ein. Dies geschieht im 1903 durch Papst Pius X.
Doch die „Editio typica“, wie nun die von Rom veröffentlichte offizielle Ausgabe des Gregorianischen Chorals hieß, war im Grunde genommen nicht mehr als eine genaue Tonhöhenangabe in fein stilisierter Quadratnotenschrift. Die Frage war nun, wie man diese neuen Melodien singen sollte. Das so genannte „Rhythmussystem von Solesmes“, nach seinem Erfinder auch „Mocquereau-System“ genannt, fand schnell weltweite Anerkennung und Verbreitung: Es beruht auf Unteilbarkeit des Zeitwertes jeder Note und dem strengen rhythmischen Gleichwert jedes Tons, Äqualismus genannt. Besonders wegen letzterem wurde dieses Interpretationssystem von der kirchlichen Autorität in gewisser Weise sogar vorgeschrieben. Da ein nach diesem System gestalteter Vortrag der Gesänge eine vom Sänger als Individuum getragene Interpretation eher unterband als ermöglichte, schien es besonders geeignet, den „objektiven“ Vollzug der gottesdienstlichen Feier auch in musikalischer Hinsicht zu garantieren.
Eugene Cardine, ebenfalls Mönch der Abtei Solesmes begann die Frage nach dem „Rhythmus“ in den gregorianischen Gesängen neu zu stellen und begründete 1952 als Professor für musikalische Paläographie am päpstlichen Musikinstitut in Rom einen neuen Forschungszweig, die „Semiologie“. Es ist die Wissenschaft von den ältesten Zeichen, den Neumen, mit denen im 10. Jahrhundert die gregorianischen Melodien zum ersten Mal schriftlich fixiert wurden. Besonders aus den bekannten Neumenschriften von St. Gallen und Metz lassen sich an den verschiedenen Formen dieser Zeichen differenzierte Bewegungsnuancen ablesen. 1979 erschien das „Graduale Triplex“, in dem über die Quadratnotation die Neumen von St. Gallen und Metz geschrieben sind. Dadurch ist nun eine Interpretation der Gesänge möglich, die sich weitestgehend der authentischen Tradition anzunähern vermag.

Prof. Godehard Joppich