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Wie Krieg Generationen prägt

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Datum:
5. Mai 2025
Von:
Anja Weiffen

Was wird aus Kindern, die in zerbombten Städten aufwachsen? Wie gehen Seniorinnen und Senioren heute mit Kriegserinnerungen um? Zum Kriegsende vor 80 Jahren blickt das Bistum Mainz auf ein Thema, das lange ein Tabu war.

„Ich übte tagtäglich, Schmerzen zu ertragen“, schreibt eine Frau, Jahrgang 1938. Sie dachte dabei an ihre Frostbeulen zurück. „Zentimeter für Zentimeter quetschte ich meine erfrorenen Zehen in die festen Winterstiefel.“ Für sie als Kind jeden Tag „die Hölle“ auf dem Weg zur Schule. Sie übte damals ihre „preußische Disziplin“ ein, die sie bis heute nicht abgelegt habe. Eine Szene von vielen aus dem Buch von Sabine Bode „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“.

Bode ist Journalistin und begann vor rund 20 Jahren zu recherchieren, wie sich der Zweite Weltkrieg auf die Generation der sogenannten Kriegskinder auswirkt. Sie sprach mit Angehörigen der Jahrgänge 1930 bis 1945, notierte die Geschichten. Mit ihren Recherchen deckte sie die Spätfolgen des Kriegs mit auf. Sie machte publik, dass sich Ängste, Depressionen, Verunsicherungen der Kriegskinder auch auf nächste Generationen übertragen. Ein Drittel der Menschen, die Kindheit und Jugend im Krieg verbrachten, ist durch Erinnerungen belastet, – auch das ein Ergebnis ihrer Recherchen.

„Sabine Bode ist eine der Vorreiterinnen zu diesem Thema“, betont Christoph Krauß, Referent Gerechtigkeit und Frieden für das Bistum Mainz. Der promovierte Sozialethiker koordiniert mit einer Arbeitsgruppe vielfältige Veranstaltungen zum Kriegsende vor 80 Jahren, die im gesamten Bistumsgebiet stattfinden. Am 3. Juni wird Bode bei einer Lesung in Bad Nauheim über ihre Arbeit sprechen. Es gibt Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Die Lesung richte sich vor allem an die Kinder der Kriegskinder, „damit sie ihre Eltern besser verstehen“, sagt Krauß. Da sich Traumata oft erst im Alter verstärkt bemerkbar machen, sei das Thema „jetzt virulent, in den Alten- und Pflegeheimen“. Die Kriegskinder, das sind die heute 80- bis über 90-Jährigen.

Jahrzehntelang war es hierzulande verpönt, über die seelischen Auswirkungen der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs zu sprechen. Nach 1945 hieß es: nach vorne schauen. Die Angehörigen der Kriegsgeneration waren kaum in der Lage, ihre Erlebnisse und Gefühle in Worte zu fassen. Zudem gab es wissenschaftlich wenige Grundlagen zur Diskussion. So schreibt Sabine Bode in „Die vergessene Generation“: „Bis in die Sechzigerjahre hinein war es für die Mediziner kaum denkbar, dass der Auslöser für eine psychische Erkrankung etwas anderes sein konnte als eine schwere organische – und damit messbare – Schädigung.“ Ein weiterer Grund der Tabuisierung: Es bestand gesellschaftlich die Sorge, den Mord an den Juden zu relativieren. Leid könne nicht gegen Leid aufgerechnet werden, meint dazu der Mainzer Friedensreferent.

Es sind nicht nur schwere Kriegstraumata, die im Erwachsenenalter aufbrechen. Die Auswirkungen zeigten sich auch subtil, ist Christoph Krauß überzeugt und spricht über Verhaltensweisen in der eigenen Familie. „Etwa die Vorstellung, man muss alles aufheben, was man hat. Denn es könnte einem ja wieder genommen werden.“ Die Skepsis gegenüber Lebensphasen, die ohne Probleme verlaufen, sei für diese Generation typisch. „Dann dachten meine Eltern: Jetzt kommt doch gleich der nächste Schicksalsschlag.“ Sein Vater, beschreibt er, „hatte die Vorstellung, gegen alles gewappnet sein zu müssen“.

Die Lesung mit Sabine Bode in Bad Nauheim wird von der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) Oberhessen mitorganisiert. Die dortige leitende Bildungsreferentin Sirin Bernshausen findet, dass die Veranstaltung gut zur KEB-Arbeit in der Region passe. „Wir haben hier besonders Menschen in schwierigen Lebenssituationen im Blick. Ebenso diejenigen, die Care-Arbeit leisten“, sagt sie. Pflegekräfte, die in der Regel überlastet sind, haben mit Menschen zu tun, die nicht selten durch Kriegserinnerungen geprägt sind. Den Pflegekräften fehle jedoch Zeit und Wissen für diese Herausforderungen. Sirin Bernshausen, von Haus aus Friedens- und Konfliktforscherin, betont: „Wir wollen mit der Lesung Betroffenen eine Hilfestellung bieten und zeigen: Ihr seid damit nicht allein.“

Christoph Krauß hält Bodes Analysen für wichtig, um über heutige Kriege nachzudenken. „Selbst wenn es zu einem Schweigen der Waffen in der Ukraine kommt: Da ist eine ganze Generation, die drei Jahre lang daran gewöhnt ist, in U-Bahnhöfen zu übernachten. Die wahrscheinlich ähnlich wie die Kriegsgeneration in Deutschland daran gewöhnt ist, dass es Luftalarm gibt. Das prägt unglaublich.“ Das Thema sei auch für die Gedenkarbeit im Bistum bedeutend, „denn wir wollen nicht nur des Kriegsendes vor 80 Jahren gedenken, sondern auch mahnen, damit Kriege verhindert werden“, betont der Friedensreferent. „Krieg prägt eine Gesellschaft für lange Zeit. Der Zweite Weltkrieg, das wollen wir deutlich machen, war für ganz Europa ein großer Einschnitt.“

Lesung mit Sabine Bode

Am Dienstag, 3. Juni, lädt das Bistum Mainz und die Katholische Erwachsenenbildung Oberhessen in die Räume der Pfarrei St. Bonifatius in Bad Nauheim zu Lesung und Gespräch mit Sabine Bode ein. Beginn ist um 19.30 Uhr. Die Kölner Autorin hat Bücher zu den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs geschrieben.

Der Eintritt ist frei, Anmeldung erwünscht bei: keb. oberhessen@bistum-mainz.de 

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