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ein Gespräch mit der Klinikseelsorgerin Carola Simon:Sternenkinder: Anteil nehmen und mittragen

Carola Simon ist Pastoralreferentin und Kath. Klinikseelsorgerin in Langen. Seit Oktober 2023 widmet sie sich einem Thema, das in der Gesellschaft wenig Platz hat, obwohl viele Paare davon betroffen sind: Sternenkinder. Als Sternenkinder werden Kinder bezeichnet, die in der Schwangerschaft, vor, während oder kurz nach der Geburt verstorben sind. Für Eltern von Sternenkindern – unabhängig von Konfessionen – bietet Carola Simon ein monatlich stattfindendes Treffen an. Hier ist Platz für Trauer und für den Austausch.
Slider Interview zum Thema Sternenkinder
Datum:
24. Nov. 2025
Von:
Matthias Makowski & Carola Simon

MM: Seit Oktober 2023 bieten Sie Gruppentreffen für Eltern von Sternenkindern in Langen an. Welche Überlegung hat Sie dazu gebracht, das Angebot zu ermöglichen und was möchten Sie den Teilnehmenden vermitteln?

Carola Simon: Als Kirche sagen wir seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (Pastorale Konstitution Gaudium et spes).

Hier in meinem Projekt, in den Abenden mit den Eltern von Sternenkindern, geht es um diesen Widerhall – auch und gerade, weil dieses Thema sehr leise ist, manchmal schambesetzt und voller Erfahrungen von Verletzung, Hilflosigkeit und oft auch Trauma.

Obwohl etwa jede dritte Frau betroffen ist, sprechen wir gesellschaftlich unterproportional wenig über dieses Thema. Und das ist eine Erfahrung, die ich mache, seit ich mit meinem Projekt gestartet bin: Menschen, die ich teils schon lange kenne, sagen mir, dass das Thema wichtig ist – um kurz darauf anzufügen, dass sie selbst als Väter oder Mütter betroffen sind, es aber damals noch nichts Vergleichbares gab und einfach geschwiegen wurde, um nach außen den Anschein zu wahren, es sei „nichts“ geschehen.

Gleichzeitig hören Betroffene leider immer wieder Sätze wie: „Du bist ja noch jung, du kannst noch andere Kinder bekommen!“ Solche und ähnliche Äußerungen sind verletzend und missachten die Trauer über das Kind, auf das sie sich gefreut haben.

Für mich ist es wichtig zu vermitteln, dass der Gott, an den ich glaube, auch unsere Trauer und Wut aushält. Mein Gottesbild geht nicht davon aus, dass Gott uns vor allem Bösen und Leidvollen bewahrt. Aber er bleibt der, der mit uns ist – auch in den dunklen Stunden unseres Lebens, in denen nichts einen Sinn ergibt und Schmerz und Trauer alles andere betäuben. Er hält unsere Wut aus, selbst wenn wir ihn anklagen und auf die Frage, warum er dies „zugelassen“ hat, keine Antwort finden. Er bleibt, hört zu, teilt unseren Schmerz, trocknet unsere Tränen und wartet an unserer Seite, bis wir Kraft und Mut finden, uns wieder dem Leben zuzuwenden, ohne die Trauer zu verleugnen.


MM: Der Umgang mit der Erfahrung ist für Betroffene sicher nicht einfach – vor allem, wenn die Reaktion auf das Erlebte oft unsensibel und ohne Verständnis ausfällt. Wie erreichen Sie betroffene Eltern und Familien?

Carola Simon: Eingeladen sind Eltern von Sternenkindern. Dabei ist es nicht entscheidend, wie viel Zeit seit dem Tod des Kindes vergangen ist, sondern ob noch Austauschbedarf besteht. Empfehlenswert ist jedoch, dass mindestens vier Wochen vergangen sind. Besteht früher Gesprächsbedarf, sind Einzelgespräche oft sinnvoller – auch diese biete ich gerne an.

Erfahrungsgemäß kommen eher die Mütter der Sternenkinder, wobei Väter selbstverständlich ebenso willkommen sind.

Das Angebot ist bewusst offen angelegt. Jede*r Betroffene kann kommen, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Und auch wenn wir uns in den Räumen der Katholischen Kirchengemeinde in Langen treffen: Menschen jeder Konfession oder Religion sind willkommen.


MM: Ein für alle Betroffenen offenes Angebot ist bei einem solchen Thema ein schöner Ansatz, so schwer das Thema für Betroffene auch sein kann. Wie können wir uns den Ablauf des Treffens vorstellen – was erwartet die Besucherinnen und Besucher vor Ort?

Carola Simon: Wir beginnen damit, Licht für die Sternenkinder anzuzünden, nennen ihre Namen, sprechen über sie und das, was uns bewegt. Danach folgt eine Geschichte, die mit Impulsfragen verbunden wird. Anschließend gibt es einen Moment der Ruhe, um ein Gefühl oder einen Gedanken – das, was innerlich sichtbar wurde – auf Papier zu bringen. Das muss nicht „schön“ oder kunstvoll sein. Durch das aktive Tun kommt etwas in Bewegung und wir können miteinander darüber sprechen, was wir erlebt haben. Manchmal arbeiten wir statt mit Papier auch mit Ton – Form statt Farbe.
 

MM: Sie haben ja bereits angedeutet, dass das Thema sehr sensibel ist. Für viele ist bestimmt ein sicherer, geschützter Raum notwendig, um über die persönliche Erfahrung zu sprechen. Wie gehen Sie damit um und wie tragen Sie dafür Sorge, dass alle Teilnehmenden sich wohlfühlen und persönliche Erfahrungen und Gefühle einen Platz haben?

Carola Simon: Neue Teilnehmende weise ich auf die notwendige Vertraulichkeit hin, und wir vereinbaren diese ausdrücklich. Dabei erlebe ich stets ein hohes Maß an Sensibilität unter den Betroffenen, sodass es als selbstverständlich erscheint, achtsam miteinander umzugehen. Jede Frau und jeder Mann soll sicher sein, dass die jeweils eigene Geschichte, die Sorgen und Ängste – alles, was geäußert wird – im Raum bleibt und nicht nach außen getragen wird.


MM: Das Thema bewegt Betroffene in vielen Situationen – nicht ausschließlich vor Ort in der Gruppe. Gibt es im Anschluss an den gemeinsamen Austausch Möglichkeiten zur weiteren Begleitung oder weiterführende Angebote für die Teilnehmenden?

Frau Simon: Mir ist wichtig, dass die Teilnehmenden meine Kontaktdaten und dienstliche Handynummer erhalten, um sich bei Bedarf kurzfristig melden zu können. Bei aller gebotenen fachlichen Vorsicht halte ich dies für notwendig, denn ich weiß nie, was in einem Menschen vorgeht. Falls erhöhter Gesprächsbedarf besteht, können die Teilnehmenden mich erreichen. Diese Sicherheit anzubieten – nicht allein zu sein, wenn Gedanken kreisen – ist mir wichtig.

Zugleich kann ich an Netzwerkpartner wie „Unsere Sternenkinder Hessen“ weitervermitteln.


MM: Distanz und Nähe ist bei diesem Thema sicherlich nicht einfach. Ihr Angebot sorgt bestimmt für ein gutes Gefühl bei den Teilnehmenden. Welche Erfahrungen haben Sie denn bisher mit dem Angebot gemacht? Wie wird es generell angenommen?

Carola Simon: Es holpert immer wieder, da das Angebot bewusst offen konzipiert ist. Dies bedeutet auch, dass es vorkommen kann, dass niemand kommt oder nur eine einzelne Person – das weiß ich vorher nie.

Es gibt wunderbare Angebote auch anderer Träger und Vereine in der Region. Dennoch glaube ich, dass Kirche und Seelsorge in dieser besonderen Situation, in der Betroffene sich mit ihrer Trauer befinden, einen eigenen Auftrag und eine eigene Berechtigung haben. Es kann sehr wertvoll sein, miteinander ins Gespräch zu kommen und zu gestalten – auch wenn wir nur zu zweit im Raum sind.

Und ich erlebe immer wieder, dass auch die Gemeinde reagiert und die Sternenkinder und ihre Eltern einen Platz im Bewusstsein und im Herzen der Gemeindemitglieder bekommen, selbst wenn sie einander nicht kennen.


MM: Das ist natürlich eine Gefahr, dass niemand kommt, wenn das Angebot offen gestaltet wird. Allerdings ist es in diesem Rahmen wahrscheinlich auch sehr sinnvoll, wenn keine zusätzlichen Hürden durch eine verpflichtende Anmeldung geschaffen werden. Wir haben bereits eingangs über die Emotionen, die das Thema auslösen kann, gesprochen. Wie ist es denn bei Ihnen: Gibt es eine Rückmeldung von Teilnehmenden, die Sie besonders bewegt hat und die Sie mit uns teilen wollen?

Carola Simon: Es gab einmal ein Gespräch über die Sorge vor dem bevorstehenden Weihnachtsfest. Dieses Gespräch hat meinen Blick auf Weihnachten verändert. Ich weiß aus eigener Erfahrung und durch meine Tätigkeit im Beerdigungsdienst, dass Trauer in der Advents- und Weihnachtszeit eine besondere Herausforderung ist.

Für die Eltern von Sternenkindern, so habe ich gelernt, ist dies noch einmal auf besondere Weise schwer. Die ganze Welt – so scheint es – freut sich über die Geburt des Jesuskindes. In der Werbung stehen Geschenke und glückliche Kinder im Mittelpunkt. Zeit mit der Familie wird hochgehalten, viele feiern in großen Gemeinschaften. Und da ist die Trauer, dass die eigene Wiege leer ist und ein Herz, das eigentlich Leben und Liebe schenken wollte.

Die Sorge, wie diese Weihnachtstage zu überstehen seien – mit dem Fest, der Trauer, der Familie und ohne das Kind – hat mich tief berührt, ebenso wie der Mut und die Stärke, dennoch einen eigenen guten Weg zu finden.


MM: Sie haben es eben selbst angesprochen, dass Sie von dem, was Betroffene beschäftigt, tief berührt sind. Was löst das Thema in Ihnen aus?

Carola Simon: Wenn ich mich als Christin ernst nehme, komme ich nicht an der Trauer und Angst der Menschen vorbei. Manchmal rege ich mich auf: über die unbedachten Sprüche, die Betroffene verletzen, und über das immer noch bestehende Tabu, über Sternenkinder als Kinder zu sprechen – auch wenn sich das mittlerweile nach und nach wandelt.

Ich freue mich über jeden positiven Entwicklungsschritt, wie etwa die Gesetzesänderungen der letzten Jahre, und über den Mut und die Ausdauer, mit der für die Würde und Rechte der Sternenkinder und ihrer Eltern gekämpft wurde.

Natürlich macht es mich auch traurig, wenn Frauen mir erzählen, was sie erlebt und erlitten haben – und dankbar dafür, dass sie mir ihre Geschichten anvertrauen.

Ich weiß, dass ich den Schmerz und die Trauer der Betroffenen nie ganz verstehen werde – aber ich nehme Anteil und trage mit, so gut ich es vermag: als Mensch, als Frau, als Schwester, Kollegin und Seelsorgerin. Mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln kann ich Betroffene unterstützen, ihre Ressourcen stärken und Zeit und Raum schenken – Schmerz und Trauer mit aushalten und die Liebe zu den Kindern würdigen.


MM: Vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben und dass Sie dieses Angebot im Bistum Mainz geschaffen haben.