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Vier Wochen - vier Psalmen

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Datum:
Mo. 8. März 2021
Von:
Doris Gensler

"Rettung aus Todesnot". Zu Ps 116

Predigt von Prof. Dr. Ansgar Franz, Mainz, beim Abendlob im Hohen Dom zu Mainz am 28. Februar 2021 im Rahmen des Projekts „Vier Wochen – vier Psalmen“

 

Der Psalter als Bibel in nuce

„Wenn man die Psalmen Davids singt, ist es, als wenn man alle Bücher der Heiligen Schrift lesen würde“, heißt es bei Johannes de Dara, einem syrischen Bischof aus dem 5. Jahrhundert.

Etwa 1000 Jahre später findet man bei Martin Luther ganz denselben Gedanken:
Die Psalmen seien eine Bibel im Kleinen, darin aufs schönste all das gefasst sei, was in der ganzen Bibel stehe. „Mich dünkt,“ sagt er, „der Heilige Geist selbst habe die Mühe auf sich nehmen und eine kurze Bibel zusammenbringen wollen, auf dass, wer die ganze Bibel nicht lesen könne, hierin doch die ganze Summa der Bibel hätte“.

Woher kommt diese Hochschätzung der Psalmen, die über einen langen Zeitraum sowohl in der Ost- als auch in der Westkirche bezeugt ist? Eine Hochschätzung, die heute aber so ziemlich verdunstet zu sein scheint. Die wenigsten von uns kommen regelmäßig mit Psalmen in Berührung. Denn die Orte, an denen die Liturgie die Psalmen anbietet, sind nur schwer zugänglich:
Da sind die drei voluminösen Bände des „Stundenbuchs“, das mit seinen fünf Gebetszeiten jeden Tag eher was für Spezialisten zu sein scheint, für Kleriker und Ordensleute, aber nicht für den Normalkatholiken.
Und da ist der Wortgottesdienst der Messe, der an jedem Sonntag zwar einen Antwortpsalm vorsieht, der aber nach meiner Erfahrung in 9 vom 10 Fällen durch ein Kirchenlied  ersetzt oder ganz ausfallen gelassen wird. Ein Jammer!

Psalmen im Neuen Testament

Dieser gegenwärtige Mangel an Psalmen in unserer geistlichen Erfahrung steht im deutlichen Gegensatz zu der Fülle, die das NT bereithält: Der Psalter ist das meistzitierte alttestamentliche Buch im Neuen Testament. Keine andere alttestamentliche Schrift kommt öfter zu Wort.

Wenn man fragt, wie das Neue Testament die Psalmen verwendet, kann man im wesentlichen drei Weisen unterscheiden:

  1. Die erste zeigt Jesus als den Sprecher der Psalmen:
    Der Jude Jesus kennt und übt die Psalmen. An entscheidenden Punkten seines Lebens deutet er seine Erfahrungen mit dem Wort der Psalmen. Die vielleicht bekanntesten Stelle sind die Worte Jesu am Kreuz: Eli Eli lama sabachtani? mit denen er Ps 22 zitiert: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort, und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.“
  2. Eine zweite Weise sieht in Jesus den, vom dem der Psalm spricht. Als er am Palmsonntag in Jerusalem einzieht, rufen die Menschen: „Hosanna dem Sohn Davids. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“. Damit zitieren sie Ps 118. Aus demselben Psalm stammt auch das Bild von dem Stein, den die Bauleute verworfen haben, der dann aber zum Eckstein geworden ist.
  3. Eine dritte Weise sieht in dem in den Psalmen angesprochenen „Herrn“ nun den auferstandenen und erhöhten Christus – es liegt ja durchaus nahe, in Ps 23 „Der Herr ist mein Hirt“ den zu sehen, der von sich selbst sagte: „Ich bin der Gute Hirt“.

Ps 116 im Neuen Testament und in der Liturgie

Ps 116, den die Leseordnung für den 2. Fastensonntag vorsieht und den wir heute Abend näher ansehen wollen, wird vom Neuen Testament und der Liturgie vor allem auf die erste Weise gedeutet, also als ein Psalm, den Jesus selbst spricht.

In der Liturgie des jüdischen Pessachmahles wird Ps 116 am Ende der Feier gesungen, wenn der dritte Becher Wein getrunken wird. Dazu passt gut Vers 13: “Den Becher des Heils will ich erheben. / Ausrufen will ich den Namen des Herrn”. Mit großer Sicherheit haben auch Jesus und die Jüngerinnen und Jünger beim letzten Abendmahl diesen Psalm gesungen. So jedenfalls kann man die Notiz bei Markus deuten: “Nach dem Lobgesang gingen sie hinaus auf den Zion”. Mit „Lobgesang“ sind die sogenannten Hallel-Psalmen gemeint, zu denen auch unser Psalm gehört. Ps 116 wird damit zu einer Brücke zwischen dem Festmahl in vertrauter Runde und der Einsamkeit und Angst im Garten Getsemani. Hier erscheint Jesus dann noch einmal ein Becher, sozusagen der 4. Becher des Passachmahls. Denn es gibt nicht nur den „Becher das Heils“, sondern auch den Schmerzenskelch, den Jesus am liebsten an sich vorübergehen lassen würde. “Meine Seele ist zu Tode betrübt”, sagt er. Oder mit den Worten des Psalms: “Mich umfingen die Fesseln des Todes / Bedrängnisse der Unterwelt haben mich getroffen / Bedrängnis und Kummer treffen mich”.

Hier liegt vielleicht ein Grund für die Faszination, den die Psalmen auf die Christinnen und Christen früherer Zeiten ausgeübt haben. Während die Berichte über die Passion eher eine Außenperspektive zeigen und nur selten - wie etwa in der Getsemani-Szene - das innere Empfinden Jesu beschreiben, führen die Psalmen in Jesu Mund in eine Innenperspektive, zeigen Jesu Ängste und Schrecken, aber auch seine Hoffnung und Zuversicht: “Ich rief den Namen des Herrn: Ach Herr, rette mein Leben! Gnädig ist der Herr und gerecht, unser Gott erbarmt sich. … Ja, du hast mein Leben dem Tod entrissen, mein Auge den Tränen, mein Fuß dem Straucheln. So gehe ich meinen Weg vor dem Herrn im Land der Lebenden.”

Ps 116 und wir

Doch die vom Neuen Testament und der Liturgie vorgeschlagenen Deutungen von Ps 116 schöpfen den Sinn des Psalms nicht aus, sie wollen weiterführen zu einer persönlichen Aneignung des Psalms. Es geht ja der Bibel nicht nur um das Geschick Jesu, es geht ihr um unser Geschick. Die Bibel ist geschrieben, wie Paulus sagt, um unser eigenes Leben zu deuten. De te fabula narratur – von uns selbst erzählen die Geschichten der Bibel, und also auch der Psalm.   

Die Exegese zählt Ps 116 zu den Dankliedern, die ein Einzelner spricht, der sich aus Todesnot von Gott errettet weiß, und der nun seinen Dank und sein Lob nicht für sich behält, sondern es in großer Gemeinde verkünden will. Charakteristisch ist seine deutliche Zweiteilung in einen eher persönlich gehaltenen Dank und einer gemeinschaftlichen Dankliturgie. Dies führte dazu, dass er in der LXX, der griechischen Version des Alten Testaments, auch als zwei Psalmen gezählt wurde. Dem folgte die Vulgata, die Lateinische Bibelübersetzung. Hier fing der eine Psalm dann programmatisch an mit “dilexi” (“Ich liebe den Herrn; denn er hört meine Stimme, mein Flehen um Gnade”), der andere mit “credidi” (“Ich glaube – auch wenn ich sagen muss: Ich bin tief erniedrigt”).

Die Bibel lädt uns ein, unsere jeweils eigenen Zugänge zu dem Psalm zu finden, in dem wir ihn meditieren, häufiger vor uns hinsprechen, vielleicht sogar auswendig lernen, oder in einem Abendlob gemeinsam singen (wenn das wieder möglich sein wird). Wir können so schrittweise entdecken, wie der Psalm mit unseren eigenen Erfahrungen mit Gott und der Not zusammenkommt.

Ich will an dieser Stelle nur auf drei Textfelder des Psalms hinweisen, die mir beim wiederholten Lesen aufgefallen sind:

  1. Stark präsent ist das Thema des Todes.
    Der Tod ist eine Fessel, die bindet, die vom Leben abschnürt. Und der Tod droht nicht erst am Ende des Lebens, er wird vorweggenommen in Bedrängnissen und Kummer, in Tränen und im Straucheln der Füße. Der Tod ragt schon jetzt in das Leben hinein, er versetzt die Seele in Unruhe.

Aber es gibt in dem Psalm auch einen gnädigen und gerechten Gott, einen, der sich erbarmt. Der Psalm zitiert hier Ex 34, die große Selbstkundgabe Gottes: “Adonai ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue”. Gleich dreimal wird im Psalm der „Name“ des Herrn angerufen. In der Geschichte vom brennenden Dornbusch wird Mose dieser Name geoffenbart: „jehi ascher jehi – ich bin der ich bin“. Man muss das wohl verstehen als „Ich bin der, als der ich mich erweisen werde“ – nämlich dann im Exodus, der Befreiung aus dem Sklavenhaus, und in vielen anderen Befreiungsgeschichten der Bibel.

  1. Wie ein roter Faden durchzieht den Psalm das Wort rufen.
    Im ersten Teil ruft der Sänger des Psalms in seiner Not, er fleht um Gnade und Rettung. Im zweiten Teil steht dann das dankbare Ausrufen des Namens im Vordergrund.
    Und Gott seinerseits ist ein hörender Gott, einer, der sein Ohr der Klage neigt, aber wohl auch dem Dank.
  2. Besonders im zweiten Teil ist die gottesdienstliche, die liturgische Ebene vorherrschend.
    Wendungen wie “den Becher des Heils will ich erheben”, “meine Gelübde will ich dem Herrn erfüllen in Gegenwart des ganzen Volkes”, “ausrufen will ich den Namen des Herrn” können gedeutet werden als die Feier einer sog. “todah”, eines Dankopfermahles: Ein Israelit, der aus Todesnot errettet wurde, feierte am Jesusalemer Tempel ein solches Dankopfermahl als Neubegründung seiner Existenz. Bei diesem Mahl wird von der durchstandenen Not erzählt und Gott für die Rettung gepriesen.

Diese drei Punkte können zu ersten Annäherungen an den Psalm führen.

Zum einen: Er zeigt in der Einheit seiner beiden Teile, dass persönliches Gebet und gemeinschaftliche Liturgie zusammengehören. Beide sind nicht zu trennen:
Ohne das persönliche Gebet bleibt die gemeinschaftliche Liturgie leer und formelhaft, ohne die gemeinschaftliche Liturgie droht das persönliche Gebet zu vertrocknen.

Zum anderen: In diesen Tagen der Pandemie, des Lockdowns, der Kontaktsperren kann uns der Psalm ermutigen, dass wir die Erfahrungen der Einsamkeit, der Not, des Schmerzes und des Todes nicht verschweigen und verdrängen, sondern aussprechen. Der Psalm kann uns Worte dafür leihen, wenn uns die eigenen fehlen: “Mich umfingen die Fesseln des Todes / Bedrängnisse der Unterwelt haben mich betroffen, / Bedrängnis und Kummer treffen mich”. –

Wenn wir uns diesen Erfahrungen stellen, als Einzelne wie auch als Kirche, dann kann uns vielleicht wie dem Psalmisten auch die Hoffnung und Zuversicht aufscheinen auf einen gütigen und barmherzigen Gott, reich an Huld und Treue, auf einen Gott, dessen Name man um Hilfe anrufen kann und der sich auch an uns als machtvolle Hilfe erweisen will – wie einst an Israel bei der Befreiung aus dem Sklavenhaus und an vielen Generationen von Psalmenbeterinnen und -betern, die auf Gott ihre Hoffnung gesetzt haben und nicht enttäuscht wurden.
“Ich glaube – auch wenn ich sagen muss: / Ich bin tief erniedrigt”.

 

Ansgar Franz