Alodia Witaszek-Napierała

aus Bydgoszcz/Polen

Alodia Witaszek-Napierala (c) Stephan Dinges
Datum:
Di. 21. Mai 2019
Von:
Christoph Kulessa/Alois Bauer

Alodia Witaszek-Napierala wurde am 3. Januar 1938 geboren. Nach der Ermordung des Vaters und Deportation der Mutter wurde sie als fünfjähriges Kind zusammen mit ihrer kleinen Schwester zur "Germanisierung" verschleppt, d.h. sie wurde nach der Internierung im Konzentrationslager und SS-Gaukinderheim zur Adoption an eine deutsche Familie vermittelt. Nach dem Krieg kehrte sie nach Polen zurück und es begann die schwierige Zeit des Wieder-Erlernens der Muttersprache und der Rückkehr in eine fast vergessene Familie.

Alodia Witaszek

Ihr Vater, ein angesehener Arzt und Wissenschaftler an der Posener Universität, wurde als Angehöriger der Widerstandsbewegung im Januar 1943 verhaftet, zum Tod verurteilt und hingerichtet. Wenige Tage danach wurde die Mutter zu Hause abgeholt. Fünf kleine Kinder im Alter von einem bis acht Jahre blieben völlig allein zurück. Eine alte Frau aus der Nachbarschaft nahm sich ihrer an. Sie hofften alle auf die Rückkehr der Mutter. Sie kam jedoch nicht, da sie ins KZ Auschwitz deportiert wurde, was sie aber erst nach Kriegsende erfuhren.

Nach ein paar Tagen wurden die Kinder getrennt, Alodia und ihre Schwester Daria kamen zu einem in Posen lebenden Onkel. Im Februar jedoch wurden alle fünf Kinder im sogenannten „Rasseamt“ auf ihre Tauglichkeit zur „Germanisierung“ untersucht. Ein halbes Jahr später wurden Alodia und Daria bei ihrem Onkel abgeholt. Der polnischen Untergrundbewegung gelang es noch, mit Hilfe des gesamten Familienschmucks einen Gestapobeamten zu bestechen. Die anderen drei Geschwister wurden von der Liste gestrichen, für Alodia und Daria kam aber die Hilfe zu spät. Sie wurden in das berüchtigte „Jugendverwahrlager Litzmannstadt“ im heutigen Łódź gebracht und kamen dort in die Baracke für „rassenützliche“ Kinder. Sie durften ihre blonden Haare behalten, während alle anderen Kinderhäftlinge gleich nach der Ankunft kahlgeschoren wurden. Von dort kamen sie in das von den NS-Behörden geschaffene „Gaukinderheim“ in Kalisch. Dahin kamen Kinder, die den rassistischen Idealen der Nazis entsprachen. Die Anstalt hatte nur ein Ziel: die völlige Verdeutschung der polnischen Kinder. Man wollte ihre Erinnerungen auslöschen und sie glauben lassen, sie seien Deutsche, deren Eltern im Krieg umgekommen sind. Die nächste Station war das „Lebensborn“-Heim in Bad Polzin, wo die Kinder den deutschen Familien direkt übergeben wurden. Im April 1944 wurde Alodia von ihrer neuen „Mutti“ abgeholt und nach Stendal gebracht, wo ihre neue Familie wohnte.

Ihren neuen Eltern wurde sie als Alice Wittke, Waisenkind aus dem ausgebombten Deutschland, vorgestellt. Mit der Adoption durch die neuen Eltern bekam sie den Namen Alice Louise Dahl. Sie war das einzige Kind der Adoptiveltern, die sie von Anfang an liebten und beschützten. Im Herbst 1944 kam sie in die Schule und war dort drei Jahre lang Klassenbeste.

Ihre leibliche Mutter überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück und kehrte im Mai 1945 nach Posen zurück. Erst jetzt erfuhr sie von der Ermordung ihres Mannes und der Verschleppung ihrer Kinder. Mit Hilfe polnischer und internationaler Organisationen suchte sie zwei Jahre lang nach ihnen. Im September 1947 bekam sie Nachricht über ihre Aufenthaltsorte. Erst da erfuhr die Adoptivmutter in Deutschland, dass ihre Tochter Alice ein gestohlenes polnisches Kind ist. Alodia kehrte am 7. November 1947 nach Polen zurück, ihre Schwester Daria, die in Wien gelebt hatte, einen Monat später. Beide waren total „verdeutscht“, und es begann für sie eine schwierige Zeit der Repolonisierung: das Wieder-Erlernen der Muttersprache und die Rückkehr in eine fast vergessene Familie.

Der Kontakt zu ihrer deutschen Familie brach nicht ab, die polnische Mutter und die deutsche Mutti wurden Freundinnen. Jahre später hatten Alodias Kinder eine deutsche und eine polnische Oma. 

Die Geschichte ihrer Kindheit macht deutlich, wie sehr die menschenverachtende Politik des NS-Regimes das Leben unzähliger Kinder dramatisch veränderte.

Alodia Witaszek-Napierala kommt seit 2011 als Zeitzeugin ins Bistum Mainz.

Vortragssprache: deutsch

Hier finden Sie Informationen zur Biographie sowie zum Historischen Hintergrund:

Kurzbiografie als pdf

Deutsch gemacht - Zeitzeugin Alodia Witaszek-Napierala berichtet im Video über ihre Zwangsarisierung

Deutsch gemacht - Zeitzeugenvideo

Deutsch gemacht - Zeitzeugenvideo Kurzversion

Ausstellung zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus 2020:

01 - Einführung: »Deutsch Machen«: Kinderraub der Nazis in den besetzten Gebieten 

02 - Wer bin ich nun, Alodia oder Alice? Daten zur Biografie 

03 - Wer bin ich nun, Alodia oder Alice? Der Weg in die deutsche Pflegefamilie 

04 - Wer bin ich nun, Alodia oder Alice? Identitätswechsel 

05 - Wer bin ich nun, Alodia oder Alice? Rückkehr nach Polen 

Biographie: 

"Alodia, du bist jetzt Alice!" Kinderraub und Zwangsadoption im Nationalsozialismus. Auto: Reiner Engelmann. Erschienen im cbt Verlag, 2019. ISBN-13: 978-3-570-31268-1

erhältlich im Buchhandel und als Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung:

https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303906/alodia-du-bist-jetzt-alice

Unterrichtsmaterial der Bundeszentrale für politische Bildung zu "Alodia, du bist jetzt Alice!":

https://www.penguinrandomhouse.de/content/attachment/landingpages/cbt_alodia_unterrichtsmaterial_80046.pdf

https://www.penguinrandomhouse.de/content/download/speziell/cbj/cbt_Alodia_Loesungen.pdf