Das Original befindet sich in der Berliner Kaiser-Wilhelm Gedächtniskirche, je eine Kopie in der anglikanischen Kirche in Coventry und in der russisch-orthodoxen Kirche in Wolgograd, früher Stalingrad. Der evangelische Pfarrer und Arzt Kurt Reuber hat das Bild zum Weihnachtsfest 1942 auf die Rückseite einer russischen Landkarte gemalt und überraschte am Heiligen Abend seine Freunde mit dieser Zeichnung.
Kurt Reuber wurde am 26. Mai 1906 in Kassel geboren. Er studierte evangelische Theologie in Bethel, Tübingen und Marburg und promovierte zum Doktor der Theologie. Neben seiner Pfarrstelle studierte er auch Medizin, was ihn bei seiner Einberufung zum Militärdienst als Truppen- bzw. Lazarettarzt nach Russland führte. Kurt Reuber war Maler. Aus seinem künstlerischen Schaffen aus dieser Zeit stammen Aquarelle und Landschaftszeichnungen, sowie 150 Portraits, Kohlezeichnungen, russischer Menschen. Weihnachten 1942 zeichnete er die „Madonna von Stalingrad.“
Die Kohlezeichnung im Format 0,90 × 1,30 m zeigt eine Mutter, die ihr neugeborenes Kind in den Armen hält. Beide schmiegen sich aneinander. Wie die Mutter das Kind umhüllt mit ihrem starken Arm und ihrer großen Hand, so sind beide Gestalten selbst wie von zwei schützenden Händen umfangen. Die großen Beine und Füße der Frau stehen fest auf der Erde, darunter die Worte: „FESTUNG STALINGRAD.“ Das ist der düstere geschichtliche Hintergrund des Bildes, der durch die Schrift am linken Bildrand präzisiert wird: „1942“ - „WEIHNACHTEN IM KESSEL.“ Im Dezember 1942 sind Tausende deutsche Soldaten im Kessel von Stalingrad eingeschlossen und erwarten Zusammenbruch und Tod. Es gibt keine Aussicht mehr die gegnerischen Linien zu durchbrechen; es erreicht sie sogar ein wahnwitziger „Führerbefehl“, der den Ausbruch untersagte. Insgesamt werden 150 000 deutsche Soldaten den Kämpfen, dem Hunger und der Kälte zum Opfer fallen. Die Verluste auf russischer Seite werden auf eine Million Zivilisten und Soldaten geschätzt.
Von der rechten Bildseite fällt ein großes Licht auf die beiden Gestalten, vor allem auf die Gesichter von Mutter und Kind. Wie in einem Rahmen hat Kurt Reuber die Symbol-Worte alter Mystik „PHOS kai ZOE“ - „LICHT und LEBEN“ – geschrieben, ergänzt durch „LIEBE.“
In einem Brief an seine Frau schreibt er: „Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen – und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist, in jedem von uns!… Diese drei Dinge möchte ich dem erdhaft-ewigen Geschehen von Mutter und Kind in ihre Geborgenheit andeuten.“ … „Schaue in dem Kind das Erstgeborenen einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt. Es sei uns Sinnbild sieghaften, zukunftsfrohen Lebens. 1“ „….Und am Ende wird es dann Weihnachten, und dann tritt die Madonna vor uns hin.“ Kurt Reuber nennt die drei Worte, - Licht – Leben – Liebe, die er `Dunkelheit, Tod und Hass´ entgegenstellt, „johanneisch“ und erinnert damit daran, dass er sie aus dem Johannes-Evangelium genommen hat. Es sind die Worte dessen, der zu Weihnachten als Sohn der Maria geboren wurde:
Pastor Reuber berichtet auch im Brief an seine Frau, wie sein Bild von den Mitsoldaten aufgenommen wurde. Als seine von Kälte, Gefangenschaft und Tod bedrohten Kameraden bei ihrer mehr als bescheidenen Weihnachtsfeier im Bunker die Madonna mit dem Kind entdeckten, standen sie „wie gebannt, andächtig und ergriffen schweigend vor dem Bild an der Lehmwand, unter dem auf einem Holzscheit ein Licht brannte. Das ganze Fest stand unter der Wirkung dieses Bildes, und gedankenvoll lasen sie die Worte: Licht, Leben, Liebe. Heute Morgen kam der Regimentarzt zu mir und dankte mir für diese Weihnachtsfreude. Noch spät in der Nacht, als die anderen schliefen, hätte er mit einigen Kameraden immer wieder von seinem Lager aus das Bild im Kerzenschein gedankenvoll ansehen müssen. Ob Kommandeur oder Landser, die Madonna war immer Gegenstand äußerer und innerer Betrachtung.“
Zusammen mit dem Brief wurde die Zeichnung von einem verwundeten Kommandeur mit einem der letzten Flugzeuge aus Stalingrad ausgeflogen. Kurt Reuber geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wo er noch eine zweite, eine „Gefangenenmadonna“ malte. Er starb dort am 20. Januar 1944.
Seine „Weihnachtsmadonna“ verweist bleibend auf eine neue Welt, in der es hell ist, in der Licht – Leben – Liebe möglich sind und niemals vergehen werden. Möge diese Weihnachtsbotschaft, diese Friedensbotschaft, die Herzen der Menschen in den Kriegsgebieten unserer Welt erreichen.
1 In seinem Adventsbrief aus dem Jahr 1943 zu seiner Zeichnung von 1942.