Wir trauern um Alodia Witaszek-Napierała

Alodia_Witaszek (c) Stephan Dinges
Datum:
Di. 18. Juni 2024
Von:
Stephanie Roth

Im Alter von 86 Jahren verstarb am 16. Juni 2024 die Zeitzeugin Alodia Witaszek-Napierała in ihrer Heimatstadt Bydgoszcz/Polen. Ihr Schicksal beleuchtet einen besonders perfiden Zug der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik: die sog. „Germanisierung“ von geraubten Kindern. Die Geschichte ihrer Kindheit macht deutlich, wie sehr die menschenverachtende Politik des NS-Regimes das Leben unzähliger Kinder in den besetzten Staaten dramatisch veränderte.

Alodia Witaszek-Napierała wurde am 3. Januar 1938 in Poznań/Polen geboren. Nach der Ermordung des Vaters und Deportation der Mutter wurde sie als fünfjähriges Kind zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Daria zur "Germanisierung" verschleppt. Nach der Internierung im Konzentrationslager und einem SS-Gaukinderheim wurde sie zur Adoption an eine deutsche Familie vermittelt. Erst 1947 kehrte sie nach Polen zurück und es begann die schwierige Zeit des Wieder-Erlernens der Muttersprache und der Rückkehr in eine fast vergessene Familie.

Der Kontakt zu ihrer deutschen Familie brach nicht ab, die polnische „Mama“ und die deutsche „Mutti“ wurden Freundinnen. Über Jahrzehnte hielten die beiden Mütter Briefkontakt. Alodias Kinder hatten schließlich eine deutsche und eine polnische Oma.

Nach dem Abitur 1956 studierte Alodia Biologie und arbeitete anschließend als Dozentin in einem Labor an der medizinischen Fakultät. Sie heiratete, bekam zwei Kinder, vier Enkel und fünf Urenkel.

2011 kam Alodia Witaszek-Napierała zum ersten Mal als Zeitzeugin auf Einladung des Maximilian-Kolbe-Werks ins Bistum Mainz und war seither mehrmals jährlich als Gast an Schulen und bei öffentlichen Veranstaltungen. Mit leiser Stimme und auf zurückhaltende Art schilderte sie in vielen Gesprächen das Schicksal des polnischen Mädchens, das seiner Familie geraubt und „umerzogen“ wurde. Sie war keine, die über ihr Schicksal klagte – im Gegenteil sagte sie über sich: „Ich habe Glück gehabt, ich habe zwei Mütter“ – und beschrieb deren Liebe. Manchmal wurde aber spürbar, wie sehr ihre Geschichte sie dennoch belastete.

Als während der Corona-Einschränkungen nur digitaler Unterricht möglich war, war sie bereit, als erste Zeitzeugin im Bistum Mainz in Kooperation mit dem Maximilian-Kolbe-Werk digitale Gespräche mit Schulklassen zu führen.

Vor allem in den letzten Jahren appellierte Alodia vermehrt an ihre Zuhörerschaft, sich nicht von menschenverachtenden Ideologien verblenden zu lassen. Sie sah ihre Lebensaufgabe im hohen Alter darin, an die geraubten Kinder und deren Schicksale zu erinnern. Denn Schicksale wie ihres und der anderen geraubten Kinder sollten sich nicht wiederholen.

Sie stellte sich immer wieder für Film-Dokumentationen und Interviews für polnische, deutsche und internationale Produktionen zur Verfügung. 2022 nahm sie an einem Projekt für ein volumetrisches Zeitzeugen-Archiv der Filmuniversität Babelsberg in Potsdam teil, bei dem aus den Interview-Aufnahmen 3D-Bilder für Virtual Reality-Anwendungen generiert wurden.

Immer mehr Institutionen wurden auf ihr Schicksal aufmerksam. So nahm sie auch an einer Tagung der Zentralen Adoptionsstellen der Bundesländer in Mainz teil, mehrmals sprach sie an der Universität Mainz. Der Buchautor Reiner Engelmann verfasste 2019 eine bewegende Biografie zu Alodia Witaszek-Napierała und ihrer Familie. Im Januar 2020 war ihre Biografie Mittelpunkt einer Ausstellung zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, die an mehreren Orten in Mainz gezeigt wurde.

Von 2011 bis 2023 war sie 23 Mal zu Gesprächen in Bistum Mainz zu Gast. Viele weitere Besuche machte sie in Köln, Freiburg und Sachsen. Einen für April 2024 geplanten Aufenthalt im Kloster Jakobsberg musste sie krankheitsbedingt absagen.

2022 wurde Alodia Witaszek-Napierała für ihr unermüdliches Engagement als Zeitzeugin mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Mit Alodia Witaszek-Napierała verlieren wir eine wunderbare Freundin, die wir sehr vermissen werden. Gleichzeitig sind wir sehr dankbar, dass wir sie kennenlernen durften und viele schöne gemeinsame Tage miteinander verbringen konnten. Ihre Freundlichkeit und ihr feiner Humor werden uns immer in Erinnerung bleiben.

Das Team der Zeitzeugenbesuche im Bistum Mainz und die daran teilnehmenden Schulen, das Maximilian-Kolbe-Werk, pax christi Rhein-Main und das Bistum Mainz trauern um eine beeindruckende Persönlichkeit. Wir werden sie in unseren Gedanken und Herzen weitertragen, sie in unser Gebet einschließen und ihr ein ehrendes Gedenken bewahren.