„Als plötzlich mein Sohn in der Tür dieses Krankenzimmers stand, habe ich zum 1. Mal wieder gespürt, dass ich MENSCH bin!“, sagte mir die 88-jährige Patientin mit Tränen in den Augen. Das anhaltende Besuchsverbot für alle Angehörigen – mit Ausnahme besonderer Situationen wie Geburt und Sterben sowie im Kinderbereich – macht in der Corona-Pandemie allen Beteiligten schwer zu schaffen: Patient*innen wie Pflegenden, denen es selbst wehtut, weil sie mitansehen müssen, wie ihre Patient*innen leiden und deren eigene (Selbst-)Heilungskräfte davon negativ beeinflusst sind..
„Miterleben zu müssen, wie die Mitbewohnerin an Einsamkeit verstirbt, hat mich fertiggemacht“, berichtet mir der Patient, der viele Jahre selbst Mitarbeiter des Altenheims war, bevor er – wie er sagte – „auf die andere Seite gewechselt ist“ und selbst Bewohner des Hauses wurde. „Für sie war es so wichtig, das Leben draußen und auf dem Flur mitzubekommen. Doch mehr und mehr wurde ihr das Leben genommen – daran ist sie verstorben, weil das Leben dann keinen Sinn mehr hatte“, sagt er mir weiter und ich spüre die Traurigkeit in seinen Worten.
Nur zwei von täglich zahlreichen Rückmeldungen, die ich in meinen Gesprächen mit den Patient*innen auf den verschiedenen Stationen unserer Mainzer Unimedizin erhalte – und es wird deutlich, welch „hohen Preis“ Menschen für diese auferlegten Maßnahmen zahlen.
Wir leben von Begegnungen, denn „no man is an island, entire of itself“, wusste 1642 schon der irische Dichter John Donne, und „unser Leben ist die Geschichte unserer Begegnungen“, wie der Theologe und geistliche Schriftsteller Anton Kner (1911 – 2003) sagt. Allein „im Nebel der Ungewissheit tappen zu müssen“, kann Menschen verzweifeln lassen. Dankbar sehe ich die sehnsuchtsvollen Augen meines Gegenübers und im gemeinsamen Gespräch öffnen sich Ressourcen, die jetzt helfen, „Boden unter den Füßen zu spüren“, wieder mal und wenigstens für diesen „Augen-Blick“, der so dankbar erlebt wird.
„Ich bin nicht religiös, aber ich glaube und versuche, der Stimme meines Gewissens zu folgen“, sagt mir der Patient, seit zwei Jahren in Rente und nach einem schweren Bahnunfall, der ihn den rechten Arm gekostet hat, unmittelbar vor seinem 65. Geburtstag – mit Tränen in den Augen, als ich ihm sage, dass ich übermorgen wieder kommen werde, ohne dass ich von diesem Anlass wusste. Er weiß, dass es eigentlich seine „zweite Geburt“ ist, weil ein guter Schutzengel deutlich Schlimmeres verhindert hatte und jetzt ihm gezeigt hat, dass er sein Leben „neu beginnen kann“ – mit der Hoffnung, dass jetzt die Kraft dazu größer ist als die Sucht, die ihn bisher gefangen hielt und aus der er sich nicht selbst befreien konnte. Seine „zweite Chance“, die er nutzen will, wie wir im Blick auf seinen Lebensweg feststellen.
Angesichts der Konfrontation mit irreversiblen Ereignissen und der Ungewissheit der Zukunft – in der persönlichen wie auch weltweiten aktuellen Erfahrung – brauchen wir die „Inseln“ der guten Begegnungen, die uns mit Hoffnung und Zuversicht erfüllen, die uns für einen „Augen-Blick“ spüren lassen: „Ich lebe – und da gibt es einen, der will, dass ich lebe!“ Und scheinbar so unentbehrlich Wichtiges wird bedeutungslos … und (erst) die erlebte Katastrophe verändert das eigene Leben radikal (im ursprünglichen lateinischen Wort-Sinn „radix“, die Wurzel), die Krise (griechisch „Entscheidung“) führt uns in ein neues Lebens-Gefühl. „Ohne diese Erfahrung wäre ich wohl heute nicht an dem Punkt, mein Leben zu verändern“, sagt er am Ende unserer Begegnung.