Ein „Schlitzohr“ aus Warschau wird 100

 Ignacy Golik an der Infotafel zum Fritz-Bauer-Denkmal vor dem OLG Frankfurt (c) Zeitzeugenprojekt Bistum Mainz
 Ignacy Golik an der Infotafel zum Fritz-Bauer-Denkmal vor dem OLG Frankfurt
Datum:
Mo. 17. Jan. 2022
Von:
Stephanie Roth

 Ignacy Golik, Auschwitzüberlebender und Zeuge bei den Frankfurter Auschwitzprozessen, wird am 19.01.2022 hundert Jahre alt. Über vier Jahre lang verbrachte er in seiner Jugend in deutschen Konzentrationslagern. Als Anfang der 1960er Jahre Zeugen für den Auschwitzprozess in Frankfurt gesucht wurden, reiste er als einer der ersten ehemaligen Häftlinge aus dem Ostblock nach Westdeutschland. Seit 2006 war er insgesamt 15-mal als Zeitzeuge im Bistum Mainz zu Gast und erzählte Schüler:innen von seiner Zeit im Konzentrationslager, zuletzt im Alter von 97 Jahren bei seinem Besuch 2019.

 

Portraitfoto von Ignacy Golik (c) Bistum Mainz / Steiner
Portraitfoto von Ignacy Golik

„Mich müssen Sie eigentlich ins Museum stellen, ich bin schon ein Museumsstück!“ So beginnt Ignacy Golik seinen Vortrag als Zeitzeuge viele Male. Vielleicht ist er manchmal selbst erstaunt über sein Alter. Schließlich schaut er auf ein sehr bewegtes Leben zurück. In seiner Jugend war das Überleben eher eine Frage von Glück oder Zufall.

Vor dem Krieg besucht Ignacy Golik das Tadeusz-Czacki-Gymnasium in Warschau. Nach dem Überfall deutscher Truppen auf Polen und der Besetzung Warschaus engagiert er sich im polnischen Widerstand. Am 12. Januar 1941 wird er im Alter von 19 Jahren von der Gestapo verhaftet. „Nationalbewusster Pole“ steht auf seiner Kennkarte im Konzentrationslager Auschwitz. Warum genau er verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde, hat er nie erfahren.

„Dies ist ein deutsches Konzentrationslager, kein Erholungsheim..."

Häftlingsfoto (c) Ignacy Golik
Häftlingsfoto

„Bei der Ankunft in Auschwitz waren wir 600 Häftlinge, alles Polen aus Warschau. Auf dem Appellplatz im Stammlager begrüßte uns Lagerführer Fritsch mit den Worten: „Dies ist ein deutsches Konzentrationslager, kein Erholungsheim. Juden haben zwei Wochen zu leben, Priester drei Monate, die anderen sechs Monate. Der einzige Weg heraus führt über den Schornstein des Krematoriums.“ - Ich dachte mir: Ich bin ein Schlitzohr aus der Warschauer Vorstadt, ich bin jung und schlau, ich werde es schon irgendwie überstehen. Dann holten die Kapos einen Juden aus der Reihe heraus und schlugen ihn, bis er zu Boden ging. Sie legten ihm einen Stock über die Kehle, stellten sich auf beiden Seiten darauf und machten so eine Wippe, hin und her, bis er tot war. Da wurde mir klar, hier ist es richtig gefährlich.“

 

Wie brutal und menschenverachtend die Häftlinge in Auschwitz behandelt wurden, schildert Herr Golik bei seinem Bericht über eines der Arbeitskommandos, in denen er eingesetzt war. Beim Schneiden von Kopfweiden außerhalb des Lagers galt das Überschreiten der gedachten Linie, die die Wachposten bildeten, als Fluchtversuch. Die SS-Wachen machten sich einen Spaß daraus, Häftlinge zu zwingen, ihre Mütze über diese Linie zu werfen und befahlen ihnen dann, die Mütze zu holen. Jeder Häftling, der diesem Befehl nachkam, wurde erschossen. Der SS-Mann bekam für das Verhindern der Flucht eines Häftlings ein paar Tage Sonderurlaub. „Mir war klar, ich musste von diesem Kommando weg.“, erinnert sich Herr Golik. „Die Arbeit war in Ordnung, und wir fanden oft etwas zu Essen, das die Bauern aus der Umgebung für die Häftlinge versteckten, aber es war zu gefährlich. Das Spiel der SS-Leute konnte jeden zu jeder Zeit treffen.“

Dreieinhalb Jahre lang übersteht er das Konzentrationslager in verschiedensten Arbeitskommandos. Seine deutschen Sprachkenntnisse und seine rasche Auffassungsgabe erweisen sich dabei immer wieder von Vorteil. Als Hilfskräfte für die Betreuung der Desinfektionsmaschinen während der Typhusepidemie in Auschwitz gesucht werden, meldet er sich. „In Warschau auf dem Gymnasium hatten wir einen strengen Lehrer. Er bestand darauf, dass wir technische Zeichnungen lesen können.“ Dies hilft ihm nun: Als eine der Maschinen bei der Probe nicht funktioniert, findet er anhand der Bedienungsanleitung schnell heraus, wo der Fehler liegt. Die SS-Aufseher halten ihn daraufhin für einen geschickten Mechaniker und er wird dem Kommando zugeteilt. „Mein Chef bei diesem Kommando, das war ein guter Kerl. Er ließ sich von den SS-Leuten bestechen, die gerne die Desinfektionsbescheinigung haben wollten, ohne ihre Uniformen wirklich den stinkenden Mitteln aussetzen zu müssen. Er hatte immer zu Essen von ihnen, und er teilte es mit mir.“

Als er im Krankenrevier eingesetzt wird, organisiert er die Herstellung von trinkbarem Alkohol aus dem vergällten Spiritus, der für Reinigungszwecke eingesetzt wurde. „Für Alkohol konnte man alles eintauschen. Das war eine wichtige Sache für das Überleben.“ Politisch organisierte Häftlinge des Lagers drängen ihn schließlich, die Position des Kapos im SS-Revier anzunehmen. Dort lernt er als Stiefelputzer und Diener viele SS-Offiziere von Auschwitz kennen. Einige von ihnen sind später Angeklagte in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen. Von seiner Arbeitsstelle im SS-Revier beobachtet Ignacy Golik im Dezember 1942 die Vergasung des Sonderkommandos im Krematorium des Stammlagers. Dies wird später im ersten Auschwitzprozess eine Rolle spielen.

Im November 1944 wird Ignacy Golik zuerst ins Konzentrationslager Sachsenhausen und dann nach Barth, einem Nebenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück, verlegt. Mit anderen Häftlingen muss er Zwangsarbeit in den Werken des Flugzeugherstellers Heinkel leisten. Lebensbedrohlich ist hier nicht die Unberechenbarkeit der Aufseher, sondern der Hunger: Am Ende der Haftzeit wiegt er nur noch 42 Kilogramm. „Es gab im Grunde fast gar nichts zu essen. Nur Blumenkohl und Rüben.“ Schließlich werden die Häftlinge im April 1945 zu Marschkolonnen zusammengestellt und zu Fuß in Richtung Rostock in Bewegung gesetzt. „Die Straßen waren vollkommen überfüllt. Alles voller Flüchtlinge, Pferdewagen, Soldaten. Auf der Straße war kein Platz für uns, wir mussten im Straßengraben laufen. Plötzlich kamen Tiefflieger der sowjetischen Armee und schossen auf die Menschen. Alles geriet in Panik, ein unglaubliches Durcheinander, und viele Tote. Unsere SS-Wachen hatten sich schon vorher aus dem Staub gemacht, nun flohen auch die Luftwaffensoldaten, die uns bewachen sollten.“ Mit drei Kameraden setzt er sich von der Kolonne ab. In einem Dorf treffen sie auf eine Einheit der deutschen Luftwaffe. Der kommandierende Major spricht sie an: „Herr Häftling, sprechen Sie Deutsch? Und Russisch? - Ich konnte es kaum glauben: Ein Deutscher spricht mich höflich an, anstatt mich als polnisches Schwein zu beschimpfen. Er versorgte uns mit Schuhen und Brot und gab mir die Aufgabe, mit den anrückenden Russen zu verhandeln. Die kamen auch kurze Zeit später - so waren wir endlich frei.“ Zu Fuß macht sich die kleine Gruppe auf, um nach Polen zurückzukehren. 

Als Zeuge beim Auschwitzprozess in Frankfurt

Irgendwann gelingt es ihnen, von einem russischen Güterzug Richtung Osten mitgenommen zu werden. Die Rückkehr in seine Heimatstadt Warschau ist ein Schock: Die Stadt existiert praktisch nicht mehr. Nach der Niederschlagung des Aufstands der Warschauer Bevölkerung im Sommer 1944 haben die Deutschen die Stadt dem Erdboden gleich gemacht. „Das Haus, in dem ich vor dem Krieg gewohnt hatte, war völlig verbrannt. Ich schlief zunächst in einem Pferdestall.“

Später findet er seine Mutter, die den Krieg überlebt hat. Seine beiden älteren Brüder hatten nicht so viel Glück: Einer stirbt wenige Monate nach seiner Ankunft in Auschwitz, der andere überlebt mehrere Konzentrationslager und kommt kurz vor Kriegsende im KZ Dachau ums Leben.

Seine Aufgabe als Zeuge beim Auschwitzprozess verdankt Ignacy Golik einem Freund aus dem Konzentrationslager: Hermann Langbein, Vorsitzender des Internationalen Auschwitzkomitees, das von ehemaligen Häftlingen des Lagers kurz nach dem Krieg gegründet wurde. Als österreichischer Kommunist konnte Langbein problemlos in den Ostblock reisen. „Hermann kam oft nach Warschau, und wir tranken zusammen Wodka. Er überredete mich, nach Frankfurt zu kommen.“ Auch an seine Zeit in Frankfurt erinnert sich er sich lebhaft: „Die jungen Staatsanwälte sagten zu mir: Wir wollen nichts darüber hören, was Sie über Auschwitz wissen. Wir sind ausschließlich daran interessiert, was Sie selbst gesehen und erlebt haben.“ Mit seinem phänomenalen Gedächtnis hilft er bei der Identifizierung der SS-Offiziere, die in Auschwitz eingesetzt waren. Name, Herkunftsort, Dienstgrad, Aufgabengebiet im KZ - es sind viele Informationen, die sich auf immer in seinem Gedächtnis eingegraben haben. Ganz anders ergeht es ihm zunächst nach dem Krieg: „Die ganze Mathematik war weg. Ich hatte nichts mehr in meinem Kopf nach dem Lager. Ich wollte Ingenieur werden wie mein Bruder, aber es ging nicht. Also wählte ich einen Beruf, bei dem man nichts wissen, aber alles erklären können muss: Journalist!“ 40 Jahre arbeitet er als Reporter bei verschiedenen Warschauer Zeitungen. „In der Redaktion in Warschau hatten wir viele westdeutsche Zeitungen. Die waren unsere Vorbilder. Besonders die Frankfurter Rundschau, das war eine hervorragende Zeitung. Und die lese ich bis heute.“ 2016 wird er während eines Aufenthaltes als Zeitzeuge in die Redaktion der Rundschau eingeladen und trifft die damalige Chefredakteurin Bascha Mika. Auch hier erzählt er, dass in den Gerichtsakten auf ihn als glaubwürdigen Zeuge hingewiesen wird: „Bei dem Ortstermin des Gerichts in Auschwitz bestätigte man, dass ich von meinem Arbeitsplatz im SS-Revier das Krematorium im Stammlager überblicken konnte. Meine Aussage über die Vergasungen, die dort stattfanden, galten daher als glaubwürdig.“

 

„Ich kann Leute hassen, aber nicht Nationalitäten“

Besuch (ehemaliger) Begleitpersonen 2018 in Ilbenstadt (c) Stephanie Roth
Besuch (ehemaliger) Begleitpersonen 2018 in Ilbenstadt

Bei seinen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern wird Ignacy Golik oft gefragt, ob er die Deutschen hasst. „Ich kann Leute hassen, aber nicht Nationalitäten“, sagt er dann. Das beeindruckt seine Zuhörer:innen, ebenso wie sein Humor und die Lebensfreude, die er ausstrahlt, trotz all dem Schrecklichen, das ihm widerfahren ist. „Ich habe so ein Motto: Lache das Leben an, dann wird es zurücklachen!“ Bis heute, ins stolze Alter von hundert Jahren, folgt Ignacy Golik diesem Motto.

 

Fotos

Mo. 17. Jan. 2022
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