Nach Kriegende und Befreiung kehrte sie mit Fremden zurück nach Polen. Frau Walczuk ist gelernte Schneiderin und hat meist privat für Kunden geschneidert. Sie ist verheiratet. Ihr Ehemann ist Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz. Sie haben Kinder und Enkelkinder. Als Zeitzeugin nahm Frau Walczuk in Polen und Deutschland an Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern teil.
Frau Walczuk erzählt:
„Der Aufstand fand dort statt, wo wir wohnten. Die Deutschen kamen mit Ukrainern zusammen zu uns und haben uns zu einem Sammelplatz getrieben. Wir mussten dann einen Tag und eine Nacht lang gehen. Die erste Nacht verbrachten wir auf einem Flugplatz. Dort fand auch die Trennung von Männern und Frauen statt. Da ich weinte, durften wir beim Vater bleiben. Dies war am schlimmsten, weil die Männer ins KZ kamen. Wir fuhren vier Tage im Viehwaggon bis nach Oranienburg bei Berlin. Dort mussten die Männer aussteigen, und wir fuhren noch mal weiter bis zum KZ Ravensbrück. Dort mussten wir alles abgeben, was wir dabei hatten.
Die erste Nacht verbrachten wir im Freien auf Strohsäcken unter einer Zeltplane. Am nächsten Tag morgens wurden wir dann zur Registrierung geführt: Ich erhielt die Nummer 63745 sowie einen roten Winkel mit einem „P". Der rote Winkel stand für „politischer Häftling" und das „P" für „Pole". Ab diesem Zeitpunkt hatte ich keinen Namen mehr, sondern war nur noch eine Nummer. Wir kamen ins Bad, vorher wurde alle Haare abgeschnitten. Nach dem Bad gab es nur ein Kleid und ein Hemd. Die Kleider waren Zivilkleider. Darauf waren blaue Streifen aufgenäht, weil die eigentliche Häftlingskleidung zu dem Zeitpunkt fehlte. Weil es auch an Holzschuhen fehlte, durften wir die eigenen Schuhe behalten. Die Baracke war sehr voll. Vier Frauen lagen auf einer Pritsche, und drei Pritschen standen übereinander in einer Baracke.
In Ravensbrück war ich nur drei Wochen und kam danach nach Neubrandenburg. Hier mussten wir in einer Fabrik arbeiten, weil die deutschen Männer mittlerweile alle an der Front waren. Wir arbeiteten jeden Tag von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends. Ein typischer Tagesablauf sah so aus: Vier Uhr aufstehen, schnell zum Appell, jeweils fünf Frauen in einer Reihe und abzählen. Danach Marsch zur Fabrik, eine halbe Stunde lang mit einer Aufseherin und mit einem Soldaten mit Gewehr und Hund. Sechs Uhr Arbeitsbeginn. Wir hatten nur eine Schüssel und einen Löffel. Wir bekamen in der Fabrik eine halbe Liter Suppe für zwölf Stunden.
Zurück im Lager bekamen wir noch mal das gleiche. Das war alles, was wir an Lebensmittel bekamen. Das Schreckliche war, dass wir keine Möglichkeit zum Waschen hatten. So waren wir sehr schmutzig, es gab keine Seife. Die Kleider waren voller Läuse. Wir mussten sie in unserer Freizeit knacken. Früh ging das Licht aus, es gab keinen Stuhl in der Baracke, es war nur Platz zwischen den Betten. Jeweils zwei Pritschen standen zusammen und es gab einen Durchgang. Mein Platz war im Bett, es gab sonst keinen. Nichts zum Unterhalten. Der Durchgang war der ganze Bewegungsraum. Wenn wir mal etwas Zeit hatten, haben wir gebetet oder gesungen.
Bis Januar 1945 war ich zusammen mit meiner Mutter, dann ging sie auf einen Transport. Ich wusste nicht wohin und konnte mich nicht von ihr verabschieden. Mein Vater ist im KZ Bergen-Belsen gestorben, da war ich ganz allein. Es gab unmenschliche Aufseher, die uns immer wieder als „verfluchte polnische Banditen" beschimpften.
Als der Krieg fast zu Ende war, kamen wir nach Berlin als Zwangsarbeiterinnen und konnten schon allein auf der Straße gehen zur Arbeit. Der Weg war sehr weit, wir mussten laufen, aber auch mit der Straßenbahn und die U-Bahn fahren. Wir haben dort kein Essen bekommen. Wir bekamen ein halbes Stück Brot für die ganze Woche. Ich hatte solchen Hunger, dass ich in zwei Tagen alles gegessen habe. Von der Fabrik zurück gab es das erste Essen abends um acht Uhr, das war noch schlimmer als im KZ. Wir arbeiteten in einem Rüstungsbetrieb für den Flugzeugbau. Kleine Schrauben musste ich in einen Kasten setzen, der ganze Rahmen kam dann ins Säurebad. Ich musste mit meinen Fingern in die Säure fassen, die Fingernägeln schmerzten so sehr, alles war wund und vereitert und tat sehr, sehr weh. Aber wie sollte ich was sagen, ich konnte ja nicht krank sein. Ich habe dann die Finger bandagiert mit kleinen Lumpen. Dann bekam ich noch Geschwüre auf dem Rücken. Wenn man krank war, musste man sich zur Krankenstube melden. Man kam aber von dort nicht mehr zurück. Kranke waren unnötiges Zeug, überflüssig. Das wollte ich vermeiden.
Am 26. April 1945 wurden wir in Berlin von den Russen befreit. Ein Soldat kam und sagte, der Krieg sei aus und wir könnten nach Haus gehen. Die Wachen waren schon verschwunden. Wir sind dann sehr lange zu Fuß gelaufen: 143 km bis nach Küstrin und dann über Posen nach Warschau gefahren mit dem Zug.
Ich kam in Warschau zu fremden Leuten. Die Frau sagte: Du kannst so lange bleiben, bis Du Deine Familie wieder gefunden hast. Unser Haus war ganz verbrannt. Ich kannte niemand, der etwas über meine Familie wusste. Nach drei Tagen traf ich eine Tante auf der Straße, sie wohnte in einem Keller und zwei Wochen war ich dann bei ihr. Nachdem wir alles verkauft hatten, was sie besaß, sagte sie, ich kann Dich nicht länger ernähren. Du musst jemand finden, der Dich ernährt. Ich wusste nicht, wo die anderen aus der Familie geblieben waren. Ich habe auf der Straße rumgefragt. Dort habe ich bei einer Familie gehört, dass mein Bruder aus Deutschland zurückgekommen sei. Er war älter als ich, er war Arzt und war Zwangsarbeiter bei der Firma Krupp in Essen gewesen. Er hat es dort etwas besser gehabt.
Wir haben einen Keller gesucht und da drin gewohnt. Dann habe ich meine Schwester wieder gefunden, die 22 Jahre älter ist (sie stammt aus einer ersten Ehe). Vor dem deutschen Überfall hatte ich gerade die 7. Klasse beendet. Und ich musste nun einen Beruf erlernen. Ich war bei meiner Schwester und habe bei der Kindererziehung und im Haushalt geholfen und durfte am Abend sticken. Das war sehr schön. Meine Schwester war Schneiderin, sie hat mich eingelernt. Damit habe ich Geld verdient und dann einen schönen Stoff gekauft. Daraus habe ich dann mein erstes Kleid geschneidert. Ich habe dann auch selbst ausgelernt und habe auch gute Kundinnen gehabt.
Später habe ich einen jungen Mann kennen gelernt. Dann wollten wir heiraten, hatten aber keine Wohnung. Er wohnte in einem Park auf dem Gelände, wo früher das Ghetto war. Dort wurden staatliche Wohnungen gebaut. Mit Zygmund bin ich dann immer wieder zu der Baustelle spaziert in der Hoffnung, dass wir eine eigene Wohnung bekommen werden. So bekamen wir schließlich ein Ein-Zimmer-Wohnung mit Küche, wo auch noch seine Mutter mit wohnte. Sie war eine gute Schwiegermutter und ich wie ihre Tochter. Erst kurz vor der Hochzeit habe ich erfahren, dass er selbst als 10jähriger mit seiner Mutter im KZ in Auschwitz war. Er war bei der Männern im Lager und sie im Frauenlager. Wir haben dann sehr viel darüber gesprochen. Wir bekamen nur eine Tochter. Als sie 3 Jahre alt war, wollte sie ihre Milchsuppe nicht mehr essen. Das hat uns sehr weh getan.
Mit fremden Leute konnten wir nicht sprechen, wir hatten keine Kraft dazu. Erst Jahre später ist es aufgebrochen. Heute habe ich eine Tochter und zwei Enkel. Die Tochter ist Kunstmalerin und restauriert alte Bilder. (...)"