Diese Weisheit, die ohne Bindestrich in einem Wort geschrieben, vom römischen Schriftsteller Seneca stammt, begleitet mich seit über zehn Jahren in meinem Dienst als Klinikseelsorger an der Mainzer Universitätsmedizin und ist mir zu einer „Überschrift“ in der Erfahrung meiner täglichen Begegnungen geworden. In diesen Tagen der Coronakrise erhält er – neben der bereits durch die veränderte Schreibweise bewirkten Bedeutung – eine zusätzliche Beachtung, wenn ich durchgängig Menschen mit Gesichtsmasken begegne …
Auf den – buchstäblichen – „ersten Blick“ wird meine Wahr-Nehmung des Gesichts meines Gegenübers dadurch zunächst eingeschränkt. Zugleich konzentriert sich meine Aufmerksamkeit auf die Augen und die hinter der Maske vernehmbare Stimme, die häufig zugleich ein noch intensiveres Hin-Hören erfordert, um akustisch verstehen zu können, was der/die andere sagt. Während die Masken verschleiern und ich vielleicht nicht so genau weiß, was zwischen uns los ist, macht der feine „Ton“ unserer sichtbaren Augen die Musik – wie eine individuelle Melodie, die unsere Beziehung zum Klingen bringt.
Die Rückmeldung einer Patientin in früheren Jahren mit den Worten „So, wie Sie mich anschauen, haben Sie mich schon getröstet“, noch bevor wir ins Gespräch eingestiegen waren, ist auch mit dem reduzierten Gesichtsfeld möglich, weil die Bedeutung der Augen bleibt, ja, sogar noch intensiver wahrgenommen wird. Und die Bedeutung der Begegnung in Zeiten des „Virus der Einsamkeit“ und die Erfahrung der sich darin ereignenden Nähe, die im Gespräch und Ritual, z. B. der Kommunion, in diesen Tagen nicht selten emotional erlebt wird, hat zugenommen.
„Wir konnten uns (noch) verabschieden!“, sagte mir der Ehemann einer sterbenden Patientin im Anschluss an unser Ritual des Sterbesegens auf der Intensivstation erleichtert mit leuchtenden Augen – trotz aller Schwere und Plötzlichkeit der eingetretenen Situation. „Für mich ist es wichtig, gesehen zu werden“, antwortet mir die 59-jährige Patientin auf der Unfallchirurgie auf meine Frage, woher sie die Kraft für all die schweren Situationen nehme, die ihr das Leben bisher zugemutet hat. „Das hilft mir, meinen Weg weiter zu gehen!“
„Du kommst immer zu mir, weil ich schon so lange da bin?“, schaut mich der 12-jährige Junge auf der Kinderintensivstation fragend an, der den überwiegenden Teil seines Lebens im Krankenhaus verbringen musste, „ … und weil ich das Gefühl habe, dass es Dir gut tut“, ergänze ich und blicke in ein jetzt strahlendes Gesicht, von ich mich gerne „anstecken“ lasse.
Weil „unser Leben die Geschichte unserer Begegnungen ist“, wie Anton Kner es einmal formuliert hat, brauchen wir einander – und erleben in diesen Tagen schmerzhaft, was es bedeutet und auslöst, wenn dies, was unter „normalen Umständen“ möglich war, verwehrt bleibt. Diese Sehnsucht, zu sehen und (von anderen Menschen) gesehen zu werden, gehören zu unseren elementaren Bedürfnissen, weil sie uns erleben lassen, dass wir eine „Würde“ haben, eine Bedeutung, die wir uns nicht selbst geben können, die uns in diesen Begegnungen geschenkt werden kann. Eine Würde, die jeder Mensch dieser Erde von Gott erhalten hat. Aus dieser Erfahrung heraus haben Menschen der Bibel wie Hagar, Hiob und Psalmbeter Gott den Namen „El Roi“ gegeben: „Gott, der mich sieht“ (vgl. Gen 16, 13f., Hi 34, 21, Ps 31,8 und 139). Eine Erfahrung, die uns auch in diesen Tagen der Maskenpflicht – tragen kann …