Manchmal ist es die schleichende, beißende Angst. Die, die mir die Luft nimmt, sich anschleicht und mich niederdrücken will. Angst, die sich ausbreitet wie Nebel und in jede Ecke kriecht. Angst, die in der täglichen Überdosis an schlechten Nachrichten ihre Nahrung findet und die mir sagt, dass ich keine Kontrolle habe, keinen Einfluss auf das, was um mich herum geschieht. Angst um alles und jeden, den ich liebe.
Und dann gehe ich ein Stück des Weges mit dieser Angst. Wege, die mir vertraut sind, auf denen sich mein Blick weitet. Wo ich wohne ist der Blick über viele Kilometer frei und ich sehe, wie die Natur sich Tag für Tag verändert. Ich sehe die Vögel und lasse mich vom Flug der Störche beeindrucken. Ich sehe das Wachsen der Pflanzen auf den Feldern und ich sehe die Menschen, die wie ich unterwegs sind – wenn auch in gebührendem Abstand.
Unterwegs gesellen sich zu mir und der Angst auch die anderen treuen Gefährten meines Lebens hinzu. Die alte und weise Hoffnung zum Beispiel. Sie redet lange mit der Angst, bis sie ruhiger wird. Sie lässt mich den Blick in Richtung Horizont weiten. Dorthin, wo ich um Freunde weiß, die fern und doch meinem Herzen nahe sind und die ich wiedersehen werde - wenn auch nicht heute.
Auch der Glaube will natürlich mitreden auf unserem Weg und er lässt mich begreifen, wie weit der Himmel ist, wie groß die Erde und wie wunderschön all das ist, was mich umgibt – all das, was geschaffen ist, damit wir leben. Der Glaube auch an die Menschen, die als wichtigste Gabe von Gott die Fähigkeit zur Liebe erhalten haben, die sich in vielfältiger Weise äußert.
Diese Liebe gesellt sich ebenfalls zu uns hinzu auf den gemeinsamen Weg um den Ort, an dem ich lebe. Sie kommt als Liebe, die ich empfange und als Liebe, die ich schenke – die Liebe zu meiner Familie, zu meinen Freunden und zu den Menschen, die über die Jahre einen besonderen Platz in meinem Herzen gefunden haben. Die Liebe zu den Menschen, die mit mir lachen und weinen und mich annehmen, so wie ich bin.
Liebe kann sich auch als Mitgefühl äußern und sich jenen zuwenden, die krank sind oder bei einer Ansteckung mit Covid-19 besonders gefährdet sind. Mitgefühl für Menschen, die keine Möglichkeit haben, die Bitte „bleibt zu Hause“ zu erfüllen, weil sie kein zu Hause haben. Mitgefühl mit jenen, die alleine sind oder um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten. Liebe als Mitgefühl gegenüber jedem Menschen und jeder Kreatur, die leidet – so unterschiedlich dieses Leid auch sein mag.
Diese Liebe ist es, die immer mehr mit einbezieht und schließlich auf dem gemeinsamen Weg um meinen Wohnort herum auch den Mut hinzuholt, um den nächsten Tag mit Zuversicht zu beginnen.
Ich halte wenig von Sätzen wie „hab keine Angst!“. Angst hat die Fähigkeit, uns vor Gefahren zu warnen, bevor wir sie bewusst wahrnehmen und sehen. Angst zeigt uns, was wichtig und schützenswert ist. Die Angst gehört zum Leben dazu, wie Hoffnung, Glaube und Liebe und all die anderen wunderbaren Eigenschaften, die wir haben. Die Angst darf nur nicht die alleinbestimmende Macht in meinem und Ihrem Leben werden.
Mut und Angst empfinden wir oft als unvereinbare Gegner. Mutig jedoch ist nicht der, der keine Angst hat. Mutig ist, wer trotz seiner Angst tut, was Not-wendig (!) ist und zum Guten führt. Mutig ist, wer einem tiefen Sinn in seinem Leben folgt, ohne zu wissen, ob es gut ausgeht. Mutig ist heute, wer in den Arztpraxen, Krankenhäusern und anderen Therapieeinrichtungen seinen Dienst tut – egal, ob als Arzt, als Krankenschwester und Pfleger, als Therapeut oder als Teil des Reinigungspersonals. Mutig ist auch, wer in Polizei und Feuerwehr für den Schutz der Menschen tätig ist und ebenfalls, wer in Supermärkten an der Kasse sitzt, damit die Menschen bekommen, was sie zum Leben brauchen. Diese Mutigen sind Teil meines Betens und haben in diesen Tagen meinen vollen Respekt und meine Wertschätzung.
Zu Hause bleiben… das erscheint mir dann so einfach, auch wenn die Angst um meine Lieben immer wiederkehren wird. Meine Angst um sie hat gute Gründe. Doch ich glaube, ich hoffe und ich liebe gerade deshalb um so mehr…. und ich werde nicht damit aufhören!
von Carola Rebecca Simon
Pastoralreferentin, Dekanatsreferentin im Dekanat Dreieich und Beauftragte für die Notfalleelsorge in Stadt und Kreis Offenbach