“Mors et vita duello, conflixere mirando.” Das sind zwei Zeilen aus der lateinischen Ostersequenz. Von Ostersonntag an wird sie in der Liturgie eine Woche lang jeden Tag vor dem Evangelium gesungen. Mors et vita duello, conflixere mirando – Die deutsche Übersetzung der beiden Zeilen im Gotteslob lautet: „Tod und Leben, die kämpften unbegreiflichen Zweikampf.“ Das klingt noch sehr brav, und lässt nur schwach erkennen, wie tief, wie schmerzhaft und zugleich glückvoll der lateinische Text in das menschliche Leben eindringt.
Mors et vita duello, conflixere mirando …
Vielleicht kann man es etwa so wiedergeben:
Tod und Leben
im Zweikampf einander umschlungen
zu rätselhaftem Staunen.
Die Ostersequenz ist ein Gespräch mit Maria Magdalena am Ostermorgen, und aus den beiden lateinischen Zeilen spricht der ganze Schmerz, den sie im Dunkel des Morgengrauens am leeren Grab erfährt. Die frühen Morgenstunden kennen dieses Ringen zwischen Tränen, Schmerz und Glück: In the wee small hours of the morning, that’s the time you miss her most of all, heißt es in einem Jazz-Standard, und im Hohelied in der Bibel sucht die Geliebte in den Morgenstunden nach ihrem Geliebten: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht.“
Tod und Leben sind im Zweikampf umschlungen. Wo ist der geblieben, den Maria Madalena sucht? Wie einen Schwerverbrecher und Terroristen haben sie ihn hingerichtet, wo ist er gelieben? Sein Grab ist leer. Ist er jetzt ein für allemal im Tod verschlungen? Oder kann das Leben in ihm noch Oberhand bekommen.
II.
Es ist es wert, an diesem Moment einzuhalten: Wie viele Menschen kennen Maria Magdalenas angstvollen Schmerz in der Nacht vor dem Ostermorgen!
Wie viele Liebende und Geliebte? Mütter, Frauen und Kinder … Männer in Schützengräben, hinter Geschützen, in Panzern. Wie viele Menschen liegen in diesen Tagen nachts wach, und bangen um ihre ihre Söhne, Männer und Väter, ihre Töchter, Frauen und Mütter: Leben sie noch? Sind sie an irgendeiner Front in den Kriegen dieser Welt gefallen? Sind sie bei einem Luftangriff zu Tode gekommen, begraben unter den Trümmern ihres zerbombten Hauses.
Der Kampf zwischen Leben und Tod gehört zur Alltäglichkeit des Krieges. Krieg war Alltag schon lange vor dem 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die langen Jahrzehnte des Friedens, die immer wieder hochgehalten wurden, entsprachen einer sehr engen deutschen Sicht. Noch nicht einmal für Europa hat sie gestimmt. Aber seit einem Jahr ist der Krieg Deutschland näher gerückt. Von Berlin bis Kiew sind es 1300 Kilometer. Jetzt tobt der Krieg eine Tagesreise von uns entfernt, aber er war schon vorher da. Auf dem Balkan, in Israel und im Irak, in Ruanda und im Kongo, in Vietnam und Korea, in Chile, Nicaragua und Kolumbien gab es Krieg, aber er gehörte nicht zu unserem Alltag.
Oft haben die Kriege es noch nicht mal bis in die alltäglichen Nachrichten geschafft, aber auch in diesen Kriegen sind Menschen gestorben, und zahllose Liebende haben um die getrauert, die ihnen am Herzen liegen. Seit einem Jahr ist es anders, und wir erleben das als „Zeitenwende“, weil wir vergessen hatten, dass Krieg zum Leben dazu gehört.
Es fällt mir sehr schwer seit dieser Zeitenwende weiter an das Lied zu glauben, das dieser Predigtreihe den Titel gegeben hat: „Dein Friede kommt nicht durch Gewalt“. So heißt es im Lied bei Peter Jannsens und in meiner Jugend habe ich solche Friedenslieder gesungen, zur Gitarre, mit langen Haaren und in bunten T-Shirts. Gemeint ist: Gottes Friede kommt nicht durch Gewalt. Vielleicht kommt Gottes Friede nicht durch Gewalt, aber Gottes Friede kommt auch nicht durch moralisierende Appelle. Friede kommt mit Recht und Gerechtigkeit, und dazu braucht es auch eine Macht, die dieses Recht durchsetzt.
Auch für die Welt der Bibel war Krieg vielfach eine gewohnte Wirklichkeit. Hiob stöhnt seine Klage gegen Gott heraus (Ijob 7,1–3):
Ist nicht Kriegsdienst des Menschen Leben auf der Erde?
Sind nicht seine Tage die eines Tagelöhners?
Wie ein Knecht ist er, der nach Schatten lechzt,
wie ein Tagelöhner, der auf seinen Lohn wartet.
So wurden Monde voll Enttäuschung mein Erbe
und Nächte voller Mühsal teilte man mir zu.
Wenn Hiob sein Leben mit dem Kriegsdienst vergleicht, spricht er davon, wie der allgegenwärtige Krieg auf einmal auch in sein ganz alltägliches Leben hereingebrochen ist. Zweimal heißt es in den Hiobsbotschaften:
Sie nahmen Esel, bzw. Kamele weg und erschlugen die Knechte mit scharfem Schwert. Einmal sind es Sabäer, einmal Chaldäer. Hiobs ganzes Leben ist Kriegsdienst geworden. Es gibt unzählige Hiobs auch heute.
Was ist das für ein Gott, der so etwas zulässt? Ist Gott wirklich ein Gott des Friedens und des Lebens? Warum kann dann Gott den Krieg so nah in den Alltag von Menschen hereinlassen? Gott wird doch Menschen nicht einfach so dem Tod ausliefern? Wenn ja, welche Macht kann denn dem Krieg dann noch ein Ende setzen?
III.
“Mors et vita duello, conflixere mirando” – „Tod und Leben / im Zweikampf einander umschlungen / zu rätselhaftem Staunen.“ So heißt es in der Ostersequenz. Aber die Ostersequenz hört an diesem Punkt nicht auf, sonst wäre sie keine Ostersequenz.
dux vitae mortuus,
regnat vivus.
… auch das ist im Lateinischen so großartige Dichtung, dass sie kaum übersetztbar ist:
Der Anführer des Lebens, tot
– er herrscht: lebendig.
Der tote Christus hat als Lebender die Macht gewonnen. Was ist damit gemeint? Welche Macht kann denn Krieg und Tod ein Ende setzen?
Die Ostersequenz ist ein Loblied auf das Osterlamm. Dieses Lamm steht im Zentrum der Schlüsselvision in der Johannesoffenbarung, im letzten Buch in der Bibel. Das Lamm gibt dem ganzen Buch mit seinen rätselhaften Visionen, erschreckenden aber auch unglaublich trostvollen Bildern eine Mitte. In Kapitel 4 wird der Seher Johannes durch eine Tür in den Himmel hereingelassen, in Gottes Machtzentrum. Dort sieht er eine Buchrolle, beidseitig beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt. Aber es findet sich niemand, der in der Lage ist, dieses Buch zu öffnen: nicht im Himmel, nicht auf der Erde und auch nicht unter der Erde.
Deshalb weint der Seher. Es ist die einzige Stelle in der gesamten Johannesoffenbarung, in der der Seher weint. Bei allen Kriegen, beim Anblick von Naturkatastrophen gigantischen Ausmaßes, beim Erzählen von riesigen Blutströmen und Gewalttaten im Himmel und auf der Erde, bei all dem wird vom Seher keine Reaktion erzählt. An dieser Stelle weint er. Er weint, weil alles Rätselhafte keine Lösung zu finden droht. Aber einer der Ältesten tröstet ihn und darauf sieht der Seher das Lamm (Offb 5,6–7):
In der Mitte, beim Thron und den vier Lebewesen und mitten unter den Ältesten stand aufrecht ein Lamm, wie geschlachtet, mit sieben Hörnern und sieben Augen: das sind die Geister Gottes, ausgesandt auf die ganze Erde. Es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
Das Lamm steht in auffälligem Kontrast zu den damals herrschenden Machtvorstellungen.
Der Älteste kündigt dem Seher das Lamm unmittelbar vorher an, wenn er spricht: Siehe, gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids.“ Und dann erscheint das Lamm mit der klaffenden Wunde, an der es verendet ist.
Dieses verletzte Lamm soll das Buch und seine sieben Siegel öffnen? Es soll Gottes Plan der Geschichte enthüllen?
Das griechische Verb, das in der Johannesoffenbarung für das „geschlachtete Lamm“ verwendet wird, bezieht sich nicht nur auf das Schlachten von Tieren, sondern auch auf das Umbringen von Menschen. Es wird auch für den ersten Mord an einem Menschen in der Bibel gebraucht: Kains Mord an seinem Bruder Abel (1 Joh 3,12). Das geschlachtete Lamm steht dafür, dass Gott Gerechtigkeit schafft für alle Opfer im Alltag des Krieges, von Abel bis zu den Kriegsopfern unserer Tage.
Das Lamm stellt die verbreitete Macht-Matrix der ursprünglichen und wohl auch noch heutiger Leserinnen und Leser der Offenbarung infrage: Dieses verletzte Lamm aufrecht ebenso wie die öffentlichen Statuen der siegreichen römischen Kaiser, ist aber wie geschlachtet und gebeugt wie eines der von Rom unterworfenen Völker. Die Verletzbarkeit des Lammes ist erkennbar, die Wundmale seiner Schlachtung sind an seiner Haut und seinem Fell zu sehen. Die Ältesten besingen gerade diese Wunde als Quelle der Rettung:
Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du wurdest geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erworben aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern.
In seiner Verletztheit als Lamm gegenüber dem Löwen ist diese Vision die geschichtstheologische Mitte der gesamten Offenbarung.
Im Bild offenbart das Lamm Gottes Macht: Sie ist eine Macht des Wortes, der Überzeugung und des Rechts. Gottes Macht vertraut im Gespräch auf Einsicht und das bessere Argument. Sie ist keine Macht imperialer oder militärischer Gewalt.
Aber Gottes Macht hat in aller Verletzlichkeit auch den Charakter von Gewalt. Gottes Wort kann gewaltig sein wie ein Löwe. Mit seiner Macht lässt sich Gott auf diese Geschichte ein, er nimmt es auf sich, darin auch unterlegen zu sein, aber niemals endgültig besiegt. Denn Gottes Unterlegenheit ist keine Machtlosigkeit, sondern die bezwingende Ohmacht des menschlichen Wortes.
IV.
Die Johannesoffenbarung wirbt bei ihren Leserinnen und Lesern darum, dass sie dem geschlachteten Lamm folgen. Es bedeutet, die bezwingende Ohnmacht Gottes als den eigenen Weg zu wählen: das heißt auch verletzt werden zu können, aber nicht gebrochen zu werden. Das hat mit der Alltäglichkeit des Krieges zu tun. Es bedeutet nämlich auch, dass ich mich in meinen alltäglichen Kriegen nicht widerstandslos ergebe.
Du, laß dich nicht verhärten,
in dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
die allzu spitz sind, stechen
und brechen ab sogleich.
Das sind Zeilen aus Wolf Biermanns Lied Ermutigung, ein anderes Lied, das ich seit meiner Jugend gern mag. Es passt mir für heute besser als „Dein Friede kommt nicht durch Gewalt.“ Gewalt gehört zur Alltäglichkeit des Krieges. Wolf Biermann singt von Menschen, die sich nicht verbiegen lassen von der Gewalt, die sie sich selbst entfremden will.
Gewalt kann hart sein und hart machen. Menschen, die selber Gewalt erfahren haben, legen sich oft einen stählernen Schutzmantel um. Sie umgeben sich mit einer undurchdringbaren Hülle von Verbitterung, Härte und neuer Gewalt. Diese Gewalt bricht Menschen, verletzt weiter und macht sie nur noch härter. Sie entfremdet Menschen von sich selbst und von anderen. Das ist die dunkle Seite der Alltäglichkeit des Krieges.
Gewalt kann aber auch anders sein: nicht verhärtet, sondern sanft und empfindsam. Diese Art von Gewalt ist in der Lage, die Alltäglichkeit des Krieges menschlich zu machen. Es braucht diese Form von Gewalt, weil Krieg und Konflikte in der Sicht der Bibel zum menschlichen Alltag dazu gehören. Diese Alltagswirklichkeit soll Menschen aber nicht hart machen. Sanfte Gewalt kann Menschen zart und klar ins Herz dringen, und dazu überzeugen, der Entfremdung zu widerstehen und zu sich zu stehen.
Für diese Form von Gewalt steht das Bild des geschlachteten Lammes. Es ist den schmerzhaft-glücksvollen Ringkampf hindurch gegangen, für den die Osternacht steht: Leben und Tod ineinander verschlungen. Maria Magdalena ist in dieser Nacht Zeugin davon geworden. Liebende erfahren diesen Ringkampf in den Nächten ihrer Angst. Mit dem geschlachteten Lamm will die Johannesoffenbarung ihnen eine Hoffnungsperspektive geben. Es ist verletzt, aber aufrecht, ohne gebrochen worden zu sein. Aushalten in der Alltäglichkeit des Krieges bedeutet genau das: Aufrecht zu bleiben, ohne sich brechen zu lassen. Das kann manchmal sehr anstrengend werden. Es ist aber auch glückvoll, denn es hat Aussicht auf Erfolg. Sanfte Gewalt kann große Widerstände bezwingen. So nimmt sie den Schrecken vor den herrschenden Verhältnissen und macht handlungsfähig. Auch davon singt Biermann:
Du, laß dich nicht erschrecken
in dieser Schreckenszeit.
Das wolln sie doch bezwecken,
daß wir die Waffen strecken
schon vor dem großen Streit.
Ich will die Waffen nicht strecken vor dem großen Streit. Ich vertraue dabei auf die sanfte Gewalt und die überzeugende Macht von Gottes Wort. …