Vor kurzem war ich wieder einmal auf dem Disibodenberg. Das ist ein recht unscheinbarer Hügel bei Bad Sobernheim, zwischen Mainz und Trier gelegen, mit ein paar Klosterruinen darauf. Und doch ist es ein sehr bedeutsamer Ort, für mich - und irgendwie auch für die weltweite Kirche. Denn dort auf dem Disibodenberg hat die heilige Hildegard von Bingen gelebt, über 35 Jahre lang. Sie trat dort als Jugendliche ins Kloster ein - und wäre dort wohl auch als Nonne alt geworden und gestorben, wenn, ja wenn es nach dem Willen ihres kirchlichen Vorgesetzten gegangen wäre. Auf dem Disibodenberg hatte damals Abt Kuno das Sagen. Eben noch war er hoch erfreut darüber, dass Hildegard, die Seherin Gottes, immer berühmter wurde und der Glanz dieser Frau auch auf seine Abtei abstrahlte - und nun will Hildegard mit ihren Mitschwestern fortziehen. Der Abt verlangt, dass sie auf dem Disibodenberg bleibt - und spricht ein entschiedenes Nein zu ihren Plänen.
Aus und vorbei könnte man jetzt sagen. Wäre Hildegard eine gehorsame Tochter der Kirche gewesen - aus ihr wäre wohl nie die heilige Hildegard von Bingen geworden. Aber Hildegard fügt sich dem Nein des Abtes nicht. Sie hat eine andere Vision - im wahrsten Sinne des Wortes. In einer Vision sieht sie: Ihre Zukunft und die ihres Klosters liegen anderswo. Entfernt und unabhängig von Abt Kuno und seinem Männerkonvent. Am Rhein, näher an den Verkehrs- und Handelswegen des Mittelalters. Dort will sie ein neues Kloster aufbauen - von dort aus kann sie auch auf Predigtreisen gehen. Zwei Jahre streitet Hildegard mit den Männern auf dem Disibodenberg. Sie sichert sich von anderswo Unterstützung zu, von einer einflussreichen Markgräfin und vom Erzbischof von Mainz. Und schließlich setzt sie ihren Willen und ihre Vision durch. Sie zieht mit ihren Mitschwestern weg, auf einen Hügel bei Bingen, den damaligen Rupertsberg. Dort beginnt für sie und ihre Mitschwestern ein neues Leben.
Eine streitbare Heilige war sie, diese Hildegard von Bingen. Hartnäckig verfolgte sie ihre Vision. Und sie ist mir damit Vorbild. Manchmal gilt es, an dem festzuhalten, was mir die eigene Überzeugung und der eigene Glaube sagen, auch wenn es ein deutliches Nein gibt. Selbst wenn andere erst mal widersprechen - ich muss dann zu meiner Vision stehen. In vielen Bereichen kann das wichtig sein: in der Gesellschaft, in der Familie - und auch in der Kirche.
Im Mai dieses Jahres wurde Hildegard von Bingen endgültig in die Liste der Heiligen aufgenommen. Und am Sonntag in einer Woche wird Papst Benedikt sie feierlich zur Kirchenlehrerin erheben. Damit sagt die katholische Kirche auch Ja zu einer Heiligen, die sich einem Nein nicht immer gebeugt hat.
(c) Beate Hirt, Deutschlandradio Kultur: Wort zum Tag (28.9.2012)