Größe und Elend des Menschen in der Schöpfung nach der hl. Hildegard von Bingen

Öffentlicher Abendvortrag innerhalb des Internationalen und Interdisziplinären Symposions „Unversehrt und unverletzt. Hildegards Menschenbild und Kirchenverständnis heute" (27.02.-03.03.2013) am 28. Februar 2013 im Erbacher Hof in Mainz

Unter den zahlreichen und segensreichen Kongressen der Hildegard-Forschung aus den letzten Jahrzehnten, vor allem auch aus Anlass der verschiedenen Jubiläen, ragt der gestern eröffnete Kongress mit dem Titel „Unversehrt und unverletzt. Hildegards Menschenbild und Kirchenverständnis heute" besonders dadurch heraus, dass die hl. Hildegard in der Zwischenzeit zur Kirchenlehrerin, ja vielleicht besser zur Lehrerin des Glaubens in der Kirche, erhoben worden ist. Dies muss uns zuerst beschäftigen.

I. Kirchenlehrerin heute

Fast 2000 Jahre waren die Kirchenlehrer ausnahmslos Männer. Bis 1970 zählen wir 30 Theologen, denen diese Auszeichnung zugute kam. Allein im 20. Jahrhundert sind es sieben neu ernannte Kirchenlehrer. Die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bringt eine unübersehbare Wende, denn von 1970 bis zum 7. Oktober 2012 sind es vier Frauen, die zu Kirchenlehrerinnen erhoben worden sind: die hl. Teresa von Avila am 27. September 1970 und die hl. Katharina von Siena am 4. Oktober 1970, beide durch Paul VI., sowie die Ernennung der Thérèse von Lisieux am 19. Oktober 1997 durch Johannes Paul II.

Dabei muss man auf den Rang und die Bedeutung dieser heiligen Frauen schauen. Teresa von Avila und Katharina von Siena zählen in Spanien und in Italien zu den großen literarischen Gestalten. Katharina von Siena steht z.B. neben Dante und Petrarca. Katharina ist die Hauptpatronin Italiens, Teresa ist die Patronin Spaniens. Die „kleine hl. Theresia" ist durch ihren Glaubensweg durch härteste Prüfungen hindurch im großen Dunkel des reinen Glaubens an die Liebe Gottes Vorbild eines authentischen „kleinen Weges" zur Vollkommenheit. Sie ist die zweite Patronin Frankreichs und die Hauptpatronin aller kirchlicher Missionen. Besonders die große Teresa und Katharina von Siena sind durch ihre weit gespannte Tätigkeit für eine tiefe Erneuerung der Kirche das, was man „starke Frauen" nennen kann. Sie zeigen vor allem auch in Bezug auf ihr Verhältnis zu den weltlichen und kirchlichen Herrschern ihrer Zeit ein sehr mutiges Verhalten. Sie beschworen in Briefen und persönlichen Besuchen weltliche und geistliche Würdenträger hin zu einer Gesinnungsänderung und scheuten sich nicht vor kräftigen Worten.

Am 7. Oktober 2012 kam die hl. Hildegard von Bingen hinzu (1098 bis 1179). Auch bei ihr existiert eine ausgedehnte Korrespondenz mit Päpsten, Königen, Fürsten, Bischöfen, Ordensleuten und Laien. Sie unternahm Predigtreisen vor allem an den Rhein und nach Süddeutschland, wo sie Volk und Klerus Umkehr predigte. Auch sie offenbart eine ungewöhnliche dichterische Begabung. Wenn die anderen drei genannten heiligen Frauen aus Italien, Spanien und Frankreich stammen, so ist die hl. Hildegard von Bingen die erste Frau aus dem mitteleuropäischen und besonders deutschsprachigen Bereich, die zu dieser Ehre gelangt.

Ich glaube, dass man die Ernennung dieser vier heiligen Frauen durch drei Päpste innerhalb von gut 40 Jahren in ihrer Bedeutung bisher nicht genügend erkannt hat - und dies trotz aller feministischen und emanzipatorischen Rufe nach einer angemesseneren Wertung und Stellung der Frau in der Kirche. Auch wenn vor allem die hohe Spiritualität dieser heiligen Frauen im Vordergrund steht, so darf man nicht vergessen, dass sie zugleich hoch gebildet waren und auch ein großes Organisationstalent hatten. Die besondere frauliche Sensibilität hat aber auch dazu geführt, dass wir im Blick auf die von ihnen stammenden geistlichen Zeugnisse den besonders ab dem Hochmittelalter bis heute auf eine sehr rationale Weise zugespitzten Begriff der Theologie aufbrechen und in gewisser Weise weiten müssen. Es wird noch zu zeigen sein, wie die Theologie einen besonderen Beitrag von diesen Frauen geschenkt bekommen hat und dass sie besonders „in der Lage (sind), mit der ihnen eigenen Intelligenz und Sensibilität über Gott und die Glaubensgeheimnisse zu sprechen" .

II. Stationen des Lebensweges

Bei der Gelegenheit eines öffentlichen Vortrags wird es trotz der Kenntnisse der hier zahlreich versammelten Experten für den größeren Kreis der Teilnehmer und Zuhörer nützlich sein, zunächst an das Leben der hl. Hildegard zu erinnern. Ich will nur die wichtigsten Stationen ihres Lebens skizzieren.

Hildegard wurde 1098 wohl in Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen geboren und stammte aus einer vielköpfigen adeligen Familie. Sie wurde von Geburt an von ihren Eltern zum Dienst an Gott geweiht. Sie lebte in einer Klause und schließlich (wohl ab 1106) in einem kleinen Klausurkloster für Frauen auf dem Disibodenberg bei Bingen. Mit 16 Jahren entschied sich Hildegard durch die monastischen Gelübde für das klösterliche Leben (ca. 1115). Nach dem Tod ihrer Lehrmeisterin Jutta von Sponheim wird sie im Jahr 1136 zur Nachfolgerin, zur Meisterin („magistra") gewählt. Mehr als 30 Jahre lebte und wirkte Hildegard in der Abgeschiedenheit des kleinen Klosters. Sie hat von hier aus trotz einiger Schwierigkeiten zwei weitere Klöster gegründet, nämlich auf dem Rupertsberg (um 1150), weitgehend durch die Schweden im Dreißigjährigen Krieg zerstört (1632 ), und Eibingen (um 1165), das heute noch - wenn auch ein wenig entfernt vom ursprünglichen Standort- das Nachfolgekloster der hl. Hildegard ist. Die hl. Hildegard hat trotz ihrer Leiden und Schmerzen, die besonders den letzten Abschnitt ihres Lebens kennzeichnen, vier große Reisen (1158-1170) in zahlreiche Städte des Rheinlandes und des Südwestens unternommen und gerade auch in den Konventen der Klöster wie auch auf den Marktplätzen der Städte gegen das verweichlichte Leben vor allem des Klerus gepredigt. Sie übt darüber hinaus heftige Kritik an ihrer eigenen Zeit, die sie ein „weibisches Zeitalter" („tempus muliebre") nennt. Vom Kampf gegen die Sekte der Katharer wird noch die Rede sein.

Hildegard hatte schon früh die Gabe einer höchst originellen visionären Schau. „Ich sehe diese Dinge - so schreibt sie - nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren; ich sehe sie vielmehr einzig und allein in meinem Inneren, aber mit offenen leiblichen Augen, sodass ich niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag wie bei Nacht." Vieles erinnert an die Propheten des Alten Testaments: „Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist weitaus lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an diesem Licht zu erblicken. Es wird mir bezeichnet als ‚der Schatten des lebendigen Lichtes‘. In diesem Licht sehe ich zuweilen, wenn auch nicht oft, ein anderes Licht, das mir ‚das lebendige Licht‘ genannt wird. Wann und wie ich es schaue, kann ich nicht sagen. Aber solange ich es schaue, ist alle Traurigkeit und alle Angst von mir genommen, sodass ich mich wie ein einfaches junges Mädchen fühle und nicht wie eine alte Frau." Nach ihrem 40. Lebensjahr (1141) kommt es zu einem gewaltigen Durchbruch der Visionen. Aus der stillen Seherin wird eine religiöse Prophetin. Immer deutlicher vernimmt sie in ihrem Inneren geradezu einen Befehl: „Schreibe auf, was du siehst, und sage, was du hörst." Der hl. Bernhard von Clairvaux, eine der höchsten Autoritäten der Kirche ihrer Zeit, ihr „ungekrönter Herr", bestätigt ihre prophetische Gabe. Ja noch mehr: Auf der Synode von Trier (1147/48) las Papst Eugen III. selbst aus Hildegards Schriften vor. Er hatte sie durch eine Kommission überprüfen lassen. Er forderte Hildegard nun auf, ihre Visionen aller Welt mitzuteilen. Daraus entstand dann ihre erste große Schrift „Wisse die Wege" (Scivias, 1141-1151), was man nach dem Vorschlag von Prof. P. Dr. Rainer Berndt SJ auch übersetzen kann mit der Bezeichnung „Wegweiser" oder „Wegweisung" .

III. Grundgestalt und Entfaltung in den Werken

Hildegard ist in ihrem Wissen und in ihrer Sprachkraft ein Rätsel. Wir wissen relativ wenig über ihren Bildungsgang. Schon früh kannte sie die Texte der Regel des hl. Benedikt. Im Stundengebet lernte sie die Psalmen und die Hl. Schrift kennen. Sie besaß offenbar eine große Kenntnis der Kirchenväter. Die 390 Briefe zeigen eine reiche Korrespondenz mit großen Gelehrten ihrer Zeit. Sie hat sich aber immer wieder als eine „indocta" verstanden, also als „einfältige Frau". Sie sei keine Gelehrte. Ganz gewiss hat die Forschung der letzten Jahrzehnte aufgezeigt, dass gerade die Frauen in den Klöstern, besonders wenn sie wie in den Gemeinschaften der hl. Hildegard aus dem Adel stammten, sehr viel mehr Zugang zu den klassischen und gegenwärtigen Bildungsgütern hatten, als man dies vorher weitgehend dachte. Die Rede von einer „indocta" ist jedoch eine Selbstcharakteristik, die uns angesichts ihrer Gelehrsamkeit immer wieder schmunzeln lässt. Denn sie beherrscht ihre Theologie ebenso wie die zeitgenössische Philosophie, kennt sehr genau das Alte Testament und ist auch in den Naturwissenschaften wie in der Medizin zu Hause. Sie weiß über die Schönheiten der Edelsteine zu reden. Sie ist Ärztin und Äbtissin, dichtet Hymnen und schafft andere musikalische Kompositionen. Sie verfasst eine ethische Grundstudie und ein großes Werk über die Welt, eine spirituell orientierte Kosmologie und darin eine Lehre vom Menschen und seinem Heil. In jüngster Zeit haben ihre Ausführungen über die Tugenden eine besondere Aufmerksamkeit gefunden, sodass auch die ethische Dimension sehr viel stärker beachtet worden ist.

Dies darf aber nicht heißen, dass die „prophetissa teutonica", wie man sie zu Lebzeiten schon nannte, nicht auch die Geschicke von Welt und Kirche kannte und unwidersprochen hinnahm. Sie schreibt den Päpsten Eugen III., Anastasius IV., Hadrian IV. und Alexander III., an die Erzbischöfe von Mainz, Trier, Köln und Salzburg. In einem Schreiben an Kaiser Barbarossa wendet sich Hildegard mit aller Energie gegen die Papstpolitik des Kaisers. Kaiser und Könige, Bischöfe und Äbte, Priester und Laien gehören zu ihren Briefpartnern.

So ist sie eine „Posaune Gottes", eine „flammende Leuchte im Hause Gottes", eine „Mitwisserin Gottes". „Keine Stimme wird laut über das Unerhörte solchen Tuns. Alle sind ergriffen, begeistert - oder getroffen in der Wurzel ihrer Sündhaftigkeit, aufgerüttelt zu neuer, heiliger Lebensenergie, Sünder bekehren sich, Ungläubige werden gläubig, Entzweite umarmen sich." Immer mehr wird sie in hohem Maß anerkannt. So sagt Abt Rupert von Königstal nach der Lektüre ihrer Schriften: „So etwas bringen die scharfsinnigsten Professoren des Frankenreiches einfach nicht zustande. Die machen mit trockenem Herzen und aufgeblasenen Backen nur ein großes dialektisches Geschrei und verlieren sich in rhetorischen Spitzfindigkeiten. Diese gottselige Frau aber, sie betont nur das Eine, Notwendige. Sie schöpft aus ihrer inneren Fülle und gießt sie aus." Zusammenfassend schreibt Maura Böckeler: „So verlief die Sendung Hildegards in die Kirche ihrer Zeit. Letztlich ist sie nichts anderes als ein lebendiges, aus glühendem Herzen und geistberührter Seele hervorbrechendes Echo auf die Reform Gregors VII., des ehemaligen Mönches von Cluny. Immer erweckt der Geist Gottes in Zeiten, da die Liebe erkaltet, Männer und Frauen, die wie ein Pfingststurm das Feuer, das vom Himmel her in sie hineingefallen ist, über den Erdkreis jagen."

Manches an ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Spiritualität können wir schwer erklären. Auch wenn sie durch das Stundengebet mit Grund- und Schlüsselworten der lateinischen Sprache vertraut ist, so kommt ihr Latein doch rasch an Grenzen. In ihrer „Lieblingsnonne" und Sekretärin Richardis von Stade und in ihren Sekretären Volmar, später Gottfried und schließlich Wibert von Gembloux, hat sie tüchtige Mitarbeiter, die vor allem ihre Visionen zur Darstellung bringen.

Über einige Jahrzehnte vor allem des vergangenen Jahrhunderts war das neue Interesse an Hildegard sehr stark auf Randerscheinungen in ihrem Leben und Wirken gelenkt worden. Es ging um die Hildegard-Medizin, um eine direkte Anwendung ihrer Heilkunde, um Esoterik, um ihre Verwandtschaft mit dem heutigen Feminismus, ja streckenweise auch um Magie. Dies sind gewiss Ausstrahlungen der Kernideen und Grunderfahrungen der Prophetin vom Rhein. Die Berufung auf die hl. Hildegard ist also auch in diesen Ableitungen durchaus verständlich. Aber ohne kritische Rückbindung an die zentralen Zeugnisse und Schriften sind dies letztlich doch Abwege, die den Zugang zur authentischen Hildegard eher verstellen. Um dieses Zentrum zu verstehen , muss man vor allem auf die drei Schriften zurückgehen, die Hildegards Visionen enthalten: das schon genannte Werk Scivias, Wisse die Wege (1141-1151), den Liber Vitae Meritorum (1158-1163), das Buch der Lebensverdienste, und den Liber Divinorum Operum (1165-1174), das Buch der göttlichen Werke. Dieses letzte Buch mit den Kosmos-Visionen gilt als ihre höchste und zentrale schöpferische Leistung. Zwischen 1150 und 1160 entstehen die naturkundlichen und medizinischen Schriften, die nach heutiger Erkenntnis Kompilationen aus volkskundlichen Erfahrungen, klassischer Überlieferung und christlicher Tradition darstellen. Bereits im 13. Jahrhundert wurde das nicht erhaltene Originalwerk aufgeteilt „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum" in „Physica" und „Causae et curae". Hinzukommen die 390 Briefe, von denen schon die Rede war.

Daneben gibt es kleinere Schriften wie die Erklärungen der Benediktsregel, der Evangelien, des Credo und Lösungen vorgelegter theologischer Fragen, Heiligenviten, vor allem aber ein umfassendes lyrisches und musikalisches Opus (Ordo virtutum, Hymnen, Sequenzen). Diese Gedichte, Lieder und Gesänge sind vielfach übersetzt und teilweise oft unter dem Titel „Symphonia" veröffentlicht worden. Das Kölner Ensemble für Musik des Mittelalters, Sequentia, hat das Gesamtwerk Hildegards bei der Deutschen Harmonia Mundi eingespielt (5 CDs).

IV. Zur Neuentdeckung der hl. Hildegard

Die hl. Hildegard gilt als eine in der europäischen Geistesgeschichte einzigartige Erscheinung. Man hat sie auch die klügste Frau des Mittelalters genannt. Von keiner Frau des Mittelalters haben wir so viele literarische Zeugnisse erhalten bekommen. Sie gilt in diesem Sinne als die bedeutendste Schriftstellerin der Christenheit bis zum 16. Jahrhundert.

Es gibt in dieser Hinsicht einen starken Wandel in der Einschätzung der Bedeutung der hl. Hildegard, z.B. auch im Verhältnis zur Philosophie und zur Philosophiegeschichte. Die älteren verdienstvollen Werke von E. Gilson, B. Geyer, M. de Wulf nennen die hl. Hildegard in diesem Kontext überhaupt nicht. Eine aufschlussreiche Stellung nimmt K. Flasch ein, der in der ersten Auflage seines bekannten Buches „Das philosophische Denken im Mittelalter" sie nicht einmal beim Namen nennt, in der zweiten Auflage aber ausführlich behandelt, wenn auch etwas klischeehafte Urteile bleiben. Aber in angesehenen Lehrbüchern und Synthesen erhält sie heute einen beachtlichen Platz, der philosophisch begründet wird. Dabei wird jedoch nach der Auffassung einiger Autoren das Denken Hildegards, das auf einen „Symbolismus" des 12. Jahrhunderts eingegrenzt wird, von einer neuen rationalen Reflexion abgelöst, der die Zukunft gehöre.

Man muss gewiss bei einer solchen Kennzeichnung für einen Augenblick innehalten und besonders die Wandlungen bedenken, die in der Theologie dieser Zeit erfolgt sind. Die Forschung hat gezeigt, dass Hildegard durchaus mit den Leistungen ihrer in der Theologie bereits überaus bekannten Zeitgenossen fruchtbar verglichen werden kann, z.B. dem Benediktiner Anselm von Canterbury (+1109), dem Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (+1153) und dem Augustinerchorherrn Hugo von Sankt Viktor (+1141). Hildegard geht jedoch einen ganz eigenen Weg. Sie ist wohl mit den theologischen Fragestellungen ihrer Epoche vertrauter, als man dies noch vor einiger Zeit dachte.

Dabei hat sie freilich einen anderen Stil. Sie spricht vor allem auch in tiefen Bildern. Dies gilt besonders für ihre Visionen. Sie übersetzt freilich die biblischen Bilder nicht primär in eine begriffliche theologische Sprache. „In der allgemeinen Auslegungspraxis des Mittelalters, die versucht, die biblischen Bilder zu enthüllen, die Wirklichkeit in Begriffen zu fassen und die Transzendenz auf ihre begriffliche Erfassbarkeit zu befragen, bleibt Hildegards Versuch einzig und außerhalb des philosophisch-schultheologischen Rahmens. Erst die Anerkennung der Erkenntnisleistung und des Wahrheitsgehalts des Bildes in seiner erkenntnistheoretischen, hermeneutischen Tragweite, die der Metaphernforschung des 20. Jahrhunderts zu verdanken ist, lässt die Bildhaftigkeit der Visionen Hildegards neu bewerten." In einer Zeit, die auch in der Philosophie in reichem Maß den eigenen Rang des Bildes, der Metapher, des Symbols und der Narrativität entdeckt hat und dabei auch den herkömmlichen Sinn des Wortes „Vernunft" entgrenzt, wäre eine Unterbewertung der Denkweise der hl. Hildegard gegenüber dem angeblichen Vorzug einer neuen rationalen Reflexion eine unerlaubte Vereinfachung und Verkürzung. Sie entspricht auch nicht der heutigen hermeneutischen Situation.

Es gab bei aller Anerkennung der „prophetissa teutonica" im Lauf der Jahrhunderte - wie schon gesagt - immer auch ein Auf und Ab in der Rezeption und in ihrer Wertschätzung. Wenn wir heute die hl. Hildegard mit sehr viel mehr Differenzierungen verstehen, ist dies auch ein Erfolg der immens fleißigen wissenschaftlichen Erforschung im 20. Jahrhundert. Außer dem Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges, dem wir viele Veröffentlichungen und frühe Übersetzungen verdanken, ist es nicht zuletzt ein Hauptverdienst der Abtei Eibingen, viele aufklärende Studien und vor allem kritische Editionen und Übersetzungen aufbereitet und zur Verfügung gestellt zu haben. Ich nenne nur die Schwestern Maura Böckeler, Angela Carlevaris, Adelgundis Führkötter, Marianne Schrader, Walburga Storch, Cäcilia Bonn und heute fortgesetzt von Schwester Maura Zátonyi , unterstützt von den Äbtissinnen Schwester Edeltraud Forster und Schwester Clementia Killewald. Dazu zählen noch viele Forscherinnen und Forscher im In- und Ausland, nicht zuletzt auch Übersetzerinnen und Übersetzer. Ich will hier ganz besonders Prof. P. Dr. Rainer Berndt SJ nennen, Hugo von St. Viktor-Institut, Frankfurt am Main/St. Georgen, dem wir nicht nur den Kongress im Jahr 1998 und auch das jetzige Symposium, sondern vieles andere verdanken.

V. Ansporn für die Gegenwart

Es besteht kein Zweifel, dass die hl. Hildegard gerade auch infolge dieser neueren Forschungen mit vielen guten Gründen zur Ehre einer Kirchenlehrerin erhoben wurde. Gerade durch diese Auszeichnung entsteht aber auch eine andere Aufgabe. Wir dürfen nämlich nicht nur nach rückwärts schauen und ihre geschichtliche Gestalt bewundern und preisen. Wenn sie nun durch ihr Leben in Heiligkeit, durch ihre tiefe Erkenntnis göttlicher Dinge und durch ihre vielfältige Spiritualität für die ganze Kirche als vorbildlich erklärt wurde, dann müssen wir ihre Bedeutung auch in unsere Gegenwart übersetzen. Dies ist, so bin ich der Meinung, der schwierigere Teil des Auftrags, den uns ihre Ehrung anvertraut hat.

Schon die letzten Jahrzehnte, die die Popularität der hl. Hildegard außerordentlich verbreitet haben, sind uns dabei eine Warnung. Wir dürfen die hl. Hildegard nicht kurzsichtig bestimmten Bedürfnissen von heute ausliefern. Wir haben zur Genüge erlebt, wie einzelne Phänomene, wie die Hildegard-Medizin und viele esoterische Einzelheiten, nicht Randerscheinungen bleiben, die von der radikalen Mitte ihres Denkens in ihrer begrenzten Bedeutung sichtbar gemacht werden können, sondern selber in das Zentrum des Interesses rücken. Es ist eine große Hilfe, dass wir in den letzten Jahrzehnten die drei großen zentralen Schriften mit den Visionen in ihrem ganzen Gewicht, einschließlich der Illustrationen, tiefer verstehen lernten. So zeigt es sich, dass es bei der hl. Hildegard besonders schwierig ist, einzelne Details, und seien sie noch so aufschlussreich, aus dem Ganzen zu isolieren.

Aber gerade der universale Zusammenhang aller Dinge aus der radikalen theologischen und spirituellen Mitte her macht auch eine Umsetzung ihrer Bedeutung für heute nicht leicht. Wir sind in der Theologie daran gewöhnt, dass wir heute in relativ abstrakten und rein rationalen Kategorien denken und sprechen. Natürlich gibt es bei Hildegard diese Rationalität auch, die freilich immer auch durchdrungen ist von einer inneren Nähe, von der Verwandtschaft zur Sache („connaturalitas"). Mit Recht spricht Hildegard von der „brennenden Vernunft". Hier kommt die platonisch-augustinische Linie im Verständnis menschlicher Erkenntnis zur Geltung: Man muss besonders in der personalen Begegnung und in Beziehungen des Glaubens zu einer bestimmten Sache und erst recht zu einer Person eine gewisse Zuneigung und Sympathie haben, um sie wirklich verstehen zu können. Heute nennen wir dies Empathie. Bei Hildegard ist dies die Liebe.

Ich möchte im Rahmen dieses Vortrags an zwei Beispielen die spirituelle und theologische Bedeutung auch für unser heutiges Denken aufzeigen. Es können gewiss nur Andeutungen sein, die eine ganz andere Entfaltung brauchen. Zuerst soll die theologische Deutung der Schöpfung und die Stellung des Menschen in ihr zur Sprache kommen. Auf dieser Linie will ich in einem zweiten Gang die Wertung der Sexualität des Menschen und das Verständnis des Menschen als Mann und Frau wenigstens in den Grundlinien ansprechen. In beiden Themenkreisen muss dann aber auch von der Verfehlung des Menschen die Rede sein, der sich an der Schöpfung und besonders an Gott versündigt. Dies kann aber nur, wie gesagt, ein Anreiz sein, über die Meditationen und Schriftauslegungen Hildegards tiefer nachzudenken.

VI.1. Die Schöpfung und die Stellung des Menschen in ihr

In der Mitte der theologischen und spirituellen Gedanken der hl. Hildegard steht die Schöpfung. Schöpfung ist aber nicht einfach Natur im heutigen Sinne. Sie weist nämlich immer schon auf ihren Urheber, Gott den Schöpfer, zurück. Schöpfung ist für Hildegard immer ein Werk Gottes, darin der Schöpfer selbst sichtbar wird und auch heute noch in den Kreaturen wirkt. Dazu gehört nun eben auch das Loben und Preisen des Schöpfergottes. Aber darum verliert Hildegard nicht den Sinn auch und gerade für die äußere Schönheit der Schöpfung. Ich wähle zwei Beispiele dafür aus „Das Buch vom Wirken Gottes". „Ich, das feurige Leben der göttlichen Wesenheit, flamme über die Schönheit der Fluren, leuchte in den Wassern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit dem Windhauch, dem unsichtbaren Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben. Die Luft lebt nämlich im Grünen und im Blühen, die Wasser fließen, als ob sie lebten, auch die Sonne lebt in ihrem Licht ... Ich - so die Seherin - bin also als feurige Kraft in diesen Winden verborgen, und sie brennen durch mich wie der Atem ständig den Menschen bewegt und wie im Feuer die windbewegte Flamme ist. Dies alles lebt in seiner Wesenheit und in ihm ist kein Tod zu finden, weil ich das Leben bin. Ich bin auch die Vernunft, die den Windhauch des tönenden Wortes in sich hat, durch den jedes Geschöpf gemacht ist; und in das alles habe ich Leben gehaucht, sodass keines davon seiner Art nach sterblich ist; denn ich bin das Leben ...Vielmehr hat alles Lebendige in mir seine Wurzeln. Die Vernunft nämlich ist diese Wurzel; das tönende Wort aber erblüht in ihr."

Der dreifaltige Gott liebt die Welt um des Menschen willen, den er in die Mitte der Schöpfung gestellt hat. Hier bekommt der Mensch einen ganz hohen Rang: „Er schuf ihn nach seinem Bild und Gleichnis und zeichnete im Menschen alle anderen Geschöpfe nach ihrer Maßgabe ein. Denn es lag von Ewigkeit her immer fest, dass Gott Sein Werk, den Menschen, schaffen wollte; und als Er dieses Werk vollendete, gab Er ihm alle Geschöpfe, damit er mit ihnen wirke, und zwar so, wie auch Gott selbst Sein Werk, den Menschen, geschaffen hatte." Er hat ganz bewusst den Menschen in die Mitte der Schöpfung gestellt. Es ist Gottes auserwählende Liebe zum geschöpflichen Dasein. Dies zeigt sich besonders in der Vernunftanlage („rationalitas") des Menschen, die ihn befähigt, Gott und in ihm alle Dinge zu erkennen, ihn zu loben und die Absicht Gottes in der Welt zu verwirklichen. Dadurch wird der Mensch von Gott geehrt. Gott bezieht also den Menschen in seine eigene Liebe zur Schöpfung ein. Der Mensch als Gottesgeschöpf inmitten der Schöpfung bildet den Kern von Hildegards Denken. Deshalb wird immer auch die Welt, der Mensch und Gott zusammengesehen.

Man könnte eigentlich an diesem außerordentlich anspruchsvollen Denken über den Menschen irre werden, weil wir so oft den Übermut des Menschen, der sich in die Mitte der Welt setzt, bitter erfahren haben. Aber Hildegard weiß zu sehr um die gefährdete Stellung des Menschen in der Welt, wenn er sich von Gott löst und rücksichtslos sich als die Mitte der Welt aufführt. Man sieht dies vielleicht nirgends besser als in der sogenannten „Klage der Elemente", die rufen: „Wir können nicht laufen und unseren Weg demgemäß vollenden, wie unser Gebieter uns bestimmt hat. Denn die Menschen stürzen uns mit ihren bösen Werken um, wie mit einer Mühle. Daher stinken wir vor Pest und vor Hunger nach der ganzen Gerechtigkeit ... Auch die Grünkraft welkt wegen des ungerechten Aberglaubens der verkehrten Menschenmassen, die jede Angelegenheit nach ihren Wünschen bestimmen und sagen: Wer ist jener Herr, den wir nie gesehen haben? ... Die ganze Schöpfung strebt nach ihrem Schöpfer und versteht offensichtlich, dass einer sie erschaffen hat; der Mensch ist aber ein Rebell und zerteilt seinen Schöpfer in viele Geschöpfe." Aber deswegen nimmt Gott dem Menschen nicht die Größe seiner Schöpfung. Der Mensch soll diese seine Welt in aller Nüchternheit durchforschen, ja er soll sie ganz und gar durchdringen (perpenetrare). Er soll sich selbst in seiner schöpferischen Begabung vor Gottes Angesicht in der Mitte der Schöpfung verwirklichen. Aber er soll sich nicht selbst ins Zentrum der Welt stellen. Die ganze Schöpfung dreht sich hin zu Gott. Sie dreht sich nicht einfach nur um den Menschen. Diese Sicht des Menschen ergibt eine eigentümliche, für uns ungewohnte Stellung. Aber wir dürfen diese nicht im neuzeitlichen Sinne anthropozentrisch verstehen, sodass der Mensch sich und seinen Bedürfnissen sowie Zielen alles unterordnet. Die anthropologische Stellung bringt zugleich eine sehr umfassende und ausgewogene Verhältnisbestimmung von Gott, Mensch und Welt.

Hildegard kann dies alles letztlich nur sagen, weil sie immer schon auf den Menschen schaut, der Jesus Christus ist. „Denn der Vater trug immer in seinem Willen, dass er Mensch werde." „Alle guten Werke nämlich hat der Vater in seinem Sohn gewirkt, weil das in keinem anderen geschehen konnte ... Er kam deshalb für die Befreiung des Menschen auf die Erde und kaufte den Menschen frei, den niemand anderer freikaufen konnte; denn der Vater ordnete an, dass Er so komme, wie der Prophet David unter Eingebung des heiligen Geistes sagt." (335) So kann man auch verstehen, dass hinter den Aussagen Hildegards zur Schöpfung und zum Menschen immer die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus steht.

Hildegard sieht Mensch und Welt, Leib und Seele, Natur und Gnade immer in ihrem innersten Zusammenhang. Die Kreaturen ergänzen sich und ordnen sich einander zu. So sind sie immer aufeinander abgestimmt und bilden - dies ein Grundwort Hildegards - eine „Symphonia". Vor diesem Hintergrund spielen die Farben und ihr Licht, besonders das Grüne (viriditas) eine Rolle. Hier erhalten auch der menschliche Leib und alle irdischen Dinge eine äußerst positive Sicht, besonders auch die Geschlechtlichkeit des Menschen und das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Sie bekämpft alle damaligen und heutigen Verächter der Schöpfung. Gerade eine Ordensfrau verteidigt den menschlichen Leib und die geschaffene Wirklichkeit.

Hildegards wichtigstes Anliegen mit ihrem Werk besteht darin, den Menschen den Weg zum Heil zu weisen. Sie ist davon überzeugt, dass Gott bereits seine Wege zu den Menschen gegangen ist und auch weiterhin geht. Wenn Gott diesen Weg gegangen ist, vor allem auch im Spiegel seiner Geschöpfe, und den Menschen dadurch erreichen konnte, kann der Mensch auch zu Gott gelangen. Dies kommt gut im Titel des Erstlingswerkes der hl. Hildegard zum Ausdruck: Scivias - Wisse die Wege, was man gewiss, wie schon gesagt, auch mit „Wegweiser" oder „Wegweisung" übersetzen kann. Dies ist eigentlich der ganze Sinn der Lehre der hl. Hildegard. Dies zeigt Hildegard besonders auch in vielen Werken, in der Musik, in den Erkenntnissen der Natur mit ihren Heilungschancen, ja an den kostbaren Elementen der Erde wie den Edelsteinen, aber auch im Kampf zwischen den Tugenden und den Lastern. So bekommen Umkehr und Entscheidung bei Hildegard eine tragende Bedeutung.

So und noch tiefer müssten die Grundworte der hl. Hildegard gedeutet werden, z.B. das Wort Gottes und die Heilige Schrift, das Verständnis ihrer einzigartigen Visionen, Jesus Christus, Maria und die Heiligen, die Kirche usw. Aufschlussreich sind auch ihre Bilder, wie z.B. Weg und Rad. Dies soll uns dazu verlocken, die hl. Hildegard wirklich von der Mitte ihrer Botschaft aus zu verstehen. Hier ist sie wirklich eine Lehrerin des Glaubens, auch und gerade für heute.

VI.2. Die Wertung der Sexualität und das Verständnis des Menschen als Mann und Frau

Eine Folge dieser positiven Theologie der Schöpfung ist, wie wir schon angedeutet haben, die neue und eigene Sicht auf die menschliche Geschlechtlichkeit und besonders das Verhältnis von Mann und Frau. Dies ist nicht selbstverständlich, denn in der Zeit Hildegards gibt es darüber heftige Kämpfe. Hildegard betrachtet mit großer Entschiedenheit unsere Welt als von Gott gut geschaffen, aber sie schließt nicht die Augen vor der Sünde und dem Bösen, die viel Zerstörung und Disharmonie in die Schöpfung brachten. Deshalb kommt alles auf die Umkehr des Menschen an. Entscheidung ist eine zentrale Kategorie.

Mit dieser zuversichtlich gestimmten Schöpfungstheologie kämpft Hildegard gegen einen in der zeitgenössischen Theologie durchaus spürbaren Einfluss des Neuplatonismus und ganz besonders gegen alle manichäisch-dualistischen Tendenzen, die den Rang der Materie herabsetzen und abwerten. Dies wird bei Hildegard vielleicht am stärksten sichtbar in der sehr positiven Sicht der Leiblichkeit und in einer immer wieder überraschend unbefangen betrachteten Geschlechtlichkeit des Menschen. Dies hat bei Hildegard auch Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Sie denkt zwar in der Beziehung zwischen beiden durchaus konservativ im Sinne einer traditionellen Unterordnung der Frau unter den Mann. Es ist erstaunlich, wie sich Hildegard zunächst in den Hauptstrom der vorherrschenden Anthropologie einfügt. Sie will nicht einfach das Weltbild und die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen ändern. Aber dies darf nicht täuschen. Keineswegs vertritt sie ein „patriarchalisches" Verhältnis schlechthin zwischen Mann und Frau. Mit Recht hat Elisabeth Gössmann in einem auch heute noch bemerkenswerten Aufsatz im Blick auf die Übersetzungen des auch von ihr verehrten Heinrich Schipperges bemerkt, dass er „Hildegards Unterwanderung des zeitgenössischen scholastischen Frauenbildes" übersehe. Denn innerhalb dieses traditionellen Gefüges gibt es ganz kräftige korrigierende Akzente. Sie gibt der Frau für die Lösung von Konflikten in ihrer Beziehung dasselbe Recht wie dem Mann. Sie betont die positive Zusammenarbeit von Mann und Frau, die Angewiesenheit beider aufeinander. In diesem Sinne korrigiert sie sogar ergänzend den hl. Paulus in 1 Kor 11,9.

So kann Hildegard zu erstaunlichen Aussagen kommen, wenn man sie mit der herkömmlichen Auffassung vergleicht. Ein etwas ausführlicherer Text sei genauer zitiert: „Als aber Gott den Menschen anblickte, gefiel er Ihm sehr, weil Er ihn nach dem Gewand Seines Abbildes und nach Seinem Gleichnis (Gen 1,31; 1,27) geschaffen hatte, damit er mit dem vollen Ton seiner vernünftigen Stimme alle Wunderwerke Gottes verkünde. Der Mensch ist nämlich das vollkommene Wunderwerk Gottes, weil Gott durch ihn erkannt wird und weil Gott alle Geschöpfe seinetwegen erschaffen hat. Ihm hat er mit dem Kuss der wahren Liebe gestattet, Ihn durch seine Vernunft („rationalitas") zu preisen und zu loben. Aber dem Menschen fehlte eine Hilfe, die ihm ähnlich war (vgl. Gen 1,18). Daher gab Gott ihm eine Hilfe, die Spiegelgestalt der Frau. In ihr war das gesamte Menschengeschlecht verborgen, das in der Schöpfermacht Gottes hervorgebracht werden sollte, wie er auch den ersten Menschen in der Macht seiner Schöpferkraft Gottes vollendet hatte. Mann und Frau sind miteinander so eng verbunden, wie es ein Werk durch das andere ist. Denn der Mann würde ohne die Frau nicht Mann heißen, und die Frau würde ohne den Mann nicht Frau genannt. Die Frau ist nämlich Werk des Mannes und der Mann Anblick des Trostes für die Frau; und keiner von beiden könnte ohne den anderen sein. Der Mann bezeichnet die Gottheit des Gottessohnes, die Frau aber Seine Menschheit (vgl. 1 Kor 11-12)." Besonders wohltuend an dieser Darstellung ist das wechselseitige Aufeinanderangewiesen- und Aufeinanderbezogensein von Mann und Frau. Dieses Verhältnis ist keine Einbahnstraße. Hier gibt es bei Hildegard viele dialogische Aussageweisen.

Im Übrigen gibt es noch viele Hinweise dieser Art. Zu würdigen ist auch der Versuch Hildegards, Mann und Frau in Jesus Christus Raum zu geben, sodass er wirklich den Menschen und nicht den Mann repräsentiert. Dadurch gibt es eine sonst keineswegs selbstverständliche Gleichrangigkeit der Gottebenbildlichkeit des Mannes und der Frau, die ja in manchen Traditionen der Theologie durchaus nicht gegeben ist (vgl. dazu auch die zweite Vision von „Scivias"). Dabei wird auch der menschliche Leib in diese Gesamtwertung einbezogen. Jungfräulichkeit und Mutterschaft werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in einer wechselseitigen Bedingtheit dargestellt. Bei allen Einflüssen Augustins wird die Ehe positiv umschrieben. Die Frau ist bei Hildegard nicht schlechthin schwach, sondern „mollioris roboris", was man mit „von sanfterer Kraft" übersetzen könnte, so wie die männliche Stärke durch „mansuetudo" modifiziert werden muss, also durch Milde. Diese „Schwäche" der Frau wird durch Hildegard nicht wie bei vielen negativ gedeutet, sondern wird ergänzt durch Worte wie zart, weich und agil, ja sogar mit Gottesfurcht und Weisheit. Das Symbol „Haus der Weisheit" ist für Hildegard zentral. Aus der weiblichen Schwäche kann Starkes hervorgehen. Auch hier wird eine Parallele zu Jesus Christus gezogen. Aus der Schwäche der Frau wie aus der Schwäche des menschgewordenen Gottessohnes geht Leben hervor. Überhaupt gibt es eine starke Parallele zwischen der Frau und Jesus Christus in Hildegards Werken. In diesem Kontext kann Hildegard auch sagen, dass die Schwäche der Frau eine verborgene Stärke ist. Hildegard nennt die Frau selbst stark. So gibt es bei aller Unterordnung der Frau (vgl. z. B. Sonne und Mond, Seele und Leib) auch Signale weiblicher Überlegenheit. Beide Geschlechter müssen auch hier einander ergänzen und eine „durch Sanftmut gemilderte Stärke" darstellen.

Dies ist auch der Hintergrund, warum die hl. Hildegard vor allem in ihren späteren Jahren heftig gegen die sogenannten Katharer ankämpft, eine sektenähnliche Bewegung, die zwar aszetisch motivierte Wurzeln hat, aber dennoch zu einer grundsätzlich negativen Bewertung vor allem des geschaffenen Leibes kam. Die schon erwähnten Predigtreisen Hildegards an den Rhein und in den Südwesten sind von der Abwehr dieser dualistisch eingefärbten Bewegung motiviert. Es gibt bei den Katharern eine besonders dramatische Kritik der Ehe, aber auch an dem Status der Frau. Zum Teil stehen wohl bei den Katharerinnen auch sexuelle und häusliche Gewalterfahrungen im Hintergrund: „Die Ehe hat keinen Wert"; „Frauen sind Dämonen". Hier wird die hl. Hildegard von ihrer Spiritualität und Theologie her eine heftige Bekämpferin dieser häretischen Bewegung; Hildegard hat bei der Verteidigung des menschlichen Leibes und der geschaffenen Wirklichkeit überhaupt durch ihre Stellung als Ordensfrau eine eigene Glaubwürdigkeit.

Ich bin gewiss, dass diese Bedeutung der hl. Hildegard für uns heute in vielen Hinsichten noch ergänzt und vor allem vertieft werden kann. Diese Umsetzung wird selten unmittelbar geschehen. Hildegard bleibt uns bei aller Nähe in manchen Gedanken fremd und bedarf einer sorgfältigen Interpretation. Dann werden wir auch in einer authentischen Weise bereichert. Die nächste Zeit muss nach vielen gründlichen historischen und editorischen Arbeiten dieser Aufgabe gehören. Dabei ist die systematische Theologie in besonderer Weise gefordert. Aber dabei werden wir viel Geduld brauchen.

Vielleicht darf am Ende das stehen, was der Chronist über die letzten Lebensjahre der hl. Hildegard berichtet: „Denn es brannte in ihrer Brust eine so gütige Liebe, dass sie keinen aus ihrem Wirkungskreis ausschloss. ... Da aber ‚der Brennofen die Gefäße des Töpfers prüft‘ (Sir 27,6 Vg.) und ‚die Tugendkraft in der Schwäche vollendet wird‘ (2 Kor 12,9), blieb sie etwa seit ihrer Kindheit nicht verschont von häufigen und fast ununterbrochenen schmerzhaften Krankheiten, so dass sie äußerst selten ihre Füße zum Gehen nutzte, und da die gesamte Konstitution ihres Fleisches unbeständig war, war ihr Leben wie das Abbild eines kostbaren Todes. Was aber den Kräften des äußeren Menschen fehlte, das wuchs dem inneren Menschen durch den Geist des Wissens und der Stärke zu, und während ihr Körper verfiel, brauste auf wunderbare Weise die Glut ihres Geistes auf."

Der Schluss dieser „Vita" hebt hervor, dass Hildegard nachdem sie „dem Herrn in zahlreichen schweren Kämpfen treu gedient hatte, [...] Lebensüberdruss [ergriff] und sie begehrte täglich, ‚abgelöst zu werden und bei Christus zu sein‘ (Phil 1,23). Gott erhörte ihren Wunsch, und wie sie es selbst zuvor begehrt hatte, offenbarte er ihr im prophetischen Geist ihr Ende, das sie auch ihren Schwestern ankündigte. Nachdem sie sich eine Zeitlang mit ihrer Krankheit abgemüht hatte, wanderte sie also im 82. Jahr ihres Lebens am 17. September in glücklichem Heimgang zu ihrem himmlischen Bräutigam."

VII. Dank an Papst Benedikt XVI.

Während wir hier uns auf die hl. Hildegard besinnen, hat Papst Benedikt XVI. gerade seinen großen Dienst für die Kirche vollendet. Der Dank gehört in besonderer Weise auch ihm für den Mut, die hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin zu erheben. Ich möchte schließen mit einem Wort von Papst Benedikt XVI., das er am Pfingstfest 2012 zum Ausdruck brachte: „Hildegard war eine Benediktinerin im Herzen des deutschen Mittelalters, sie war eine wahre Lehrerin der Theologie und eine tiefe Kennerin der Naturwissenschaften sowie der Musik... Die Gnade des Heiligen Geistes führt sie zur Erfahrung eines tiefdringenden Verstehens der göttlichen Offenbarung und eines klugen Dialogs mit der Welt, die den stetigen Horizont des Lebens und des Wirkens der Kirche ausmachen." In ähnlicher Weise sprach er schon 2010 von der „großen Frau und Prophetin, die mit großer Aktualität auch zu uns heute spricht mit ihrer mutigen Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen" .


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Redemanuskript - Es gilt das gesprochene Wort