Mainz. Papst Benedikt XVI. hat am Pfingstsonntag, 27. Mai, angekündigt, dass er die heilige Hildegard von Bingen am 7. Oktober gemeinsam mit dem heiligen Johannes von Avila zu Kirchenlehrern erheben wird. Im Folgenden dokumentieren wir das Statement des Mainzer Bischofs, Kardinal Karl Lehmann:
Erhebung der hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin
Am 10. Mai 2012 hat Papst Benedikt XVI. bekannt geben lassen, dass die liturgische Verehrung der hl. Hildegard von Bingen auf die Weltkirche ausgedehnt wird und dass sie überall in der Gesamtkirche gefeiert werden kann.
Nun folgte dieser Feststellung weltweiter Verehrung eine weitere wichtige Entscheidung von Papst Benedikt XVI. In der Ansprache am Pfingstsonntag zum Mittagsgebet (Engel des Herrn - Regina caeli), 27. Mai 2012, hat er erklärt, dass er am 7. Oktober 2012 den hl. Johannes von Avila und die hl. Hildegard von Bingen zu Lehrern der universalen Kirche verkünden wird. Der genaue Text lautet in deutscher Übersetzung: „Diese beiden großen Zeugen des Glaubens haben in sehr unterschiedlichen geschichtlichen Perioden und kulturellen Situationen gelebt. Hildegard war eine Benediktinerin im Herzen des deutschen Mittelalters, sie war eine wahre Lehrerin der Theologie und eine tiefe Kennerin der Naturwissenschaften sowie der Musik. Der hl. Johannes von Avila, der im 16. Jahrhundert in Spanien lebte und schon lange als ‚Apostel Andalusiens' verehrt wurde, hat an der kulturellen und religiösen Erneuerung der Kirche sowie des Sozialwesens am Beginn der Moderne mitgewirkt. Die Heiligkeit des Lebens und die Tiefe der Lehre macht beide neuen Kirchenlehrer für alle Zeiten aktuell: Die Gnade des Heiligen Geistes führte sie beide zur Erfahrung eines tiefdringenden Verstehens der göttlichen Offenbarung und eines klugen Dialogs mit der Welt, die den stetigen Horizont des Lebens und des Wirkens der Kirche ausmachen."
Papst Benedikt XVI. macht eigens darauf aufmerksam, dass er die Erhebung beider Glaubenszeugen zu Kirchenlehrern bewusst am 7. Oktober vornimmt, um bei der Eröffnung der Weltbischofssynode mit dem Thema der Neuevangelisierung und am Vorabend der Eröffnung des von ihm ausgerufenen Jahres des Glaubens (Beginn am 11. Oktober) beide Gestalten in ihrer großen Bedeutung sowie Aktualität der Kirche und der Welt vor Augen zu stellen. Der Papst hat offenbar bewusst das Pfingstfest als Zeitpunkt dieser Bekanntgabe gewählt, weil er in den beiden Heiligen und Lehrern der Kirche die prophetischen Gaben des Geistes sieht, die auch heute die Menschen auf der Wahrheitssuche anregen können. Beide Heiligen stehen auch für Gaben der Weisheit und der Wissenschaft, die originelle Wege der Erkenntnis und der Vertiefung des Geheimnisses Gottes, der Menschen und der Welt vor Augen führen.
Dies war eine erste Ankündigung des Hl. Vaters. Der Tradition folgend, wird er gewiss in absehbarer Zeit die Entscheidung zur Erhebung beider Heiliger zu Kirchenlehrern auch durch ein amtliches Dokument bestätigen und näher begründen (gewöhnlich durch ein „Apostolisches Schreiben", „Litterae Apostolicae").
Mit dieser Entscheidung wird der Sinn der Erklärung vom 10. Mai 2012 auch erst voll einsichtig, dass die hl. Hildegard in den amtlichen Heiligenkalender der Gesamtkirche aufgenommen worden ist und dass die Verehrung auf die Weltkirche ausgedehnt wird. Papst Benedikt XVI. selbst hat in zwei Meditationen in einer Reihe über selige und heilige Frauengestalten des Mittelalters am 1. und 8. September 2010 in Castel Gandolfo und im Vatikan das Leben und die Werke der Hildegard von Bingen ausführlicher gewürdigt (vgl. die Veröffentlichung dieser insgesamt 16 Meditationen in deutscher Übersetzung: Heilige und Selige. Große Frauengestalten des Mittelalters, Vatikan/Illertissen 2011, Media Maria Verlag, 12-15; 17-25). Die hl. Hildegard wird als einzige dieser großen Gestalten zu Beginn der Besinnungen mit zwei Meditationen bedacht.
Zum vollen Verständnis der Erhebung zur Kirchenlehrerin muss man an Folgendes erinnern: Trotz mancher Versuche ist die hl. Hildegard nie in einem förmlichen Verfahren heilig gesprochen worden. Gleichwohl ist sie besonders in unserer Gegend, vor allem in den Diözesen Limburg, Mainz und Trier und später auch in ganz Deutschland, als Heilige verehrt worden. Auch wenn die Päpste sich die verbindliche Anerkennung vor allem eines öffentlichen Kultes der Heiligen vorbehalten haben, waren die faktische Verehrung durch das Volk Gottes und die Zustimmung durch die Bischöfe lange vorher schon sehr wirksam. In nicht wenigen Fällen wandte man sich auch zur Bestätigung der Verehrung an den Bischof von Rom. Die erste vom Papst vorgenommene Heiligsprechung erfolgte im Jahr 993, als Bischof Ulrich von Augsburg durch Johannes XV. zur Ehre der Altäre erhoben wurde. Erst im 16. Jahrhundert gibt es dann ein förmliches Verfahren, mit dem die päpstliche Kompetenz in die Praxis umgesetzt wurde, und zwar in einer prozessartigen Untersuchung. Es ging dann also nicht mehr um die rechtmäßige Bestätigung eines faktischen Kultes, sondern eine amtliche Verehrung war nur erlaubt, wenn das Tugendstreben und der Vorbildcharakter in einem solchen strengen Verfahren erwiesen wurden. Natürlich gab es zwischen diesen verschiedenen Formen der Heiligenverehrung unterschiedliche Stufen, die auch jeweils einen Übergangscharakter zur späteren Praxis darstellten.
Aus sehr verschiedenen Gründen, die differenziert und heute manchmal auch kontrovers sind, kam es trotz mancher Anläufe nie zu einem formellen Heiligsprechungsverfahren der hl. Hildegard in Rom. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erfolgte 1940 eine von Rom gutgeheißene Ausdehnung des Festes auf ganz Deutschland. Nun ist aber eine förmliche Heiligsprechung nach den - soweit ich weiß bisher nicht veröffentlichten - Richtlinien des Heiligen Stuhls zur Erhebung von Heiligen in den Rang von Kirchenlehrern eine notwendige Voraussetzung, die eben bei der hl. Hildegard fehlte. Als schon in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von sehr verschiedener Seite eine Heiligsprechung der hl. Hildegard angestrebt und auch beantragt wurde - es gibt darüber umfangreichere Akten -, war das Fehlen einer solchen förmlichen Heiligsprechung das Haupthindernis für den weiteren Gang zu einer Anerkennung als Kirchenlehrerin. Die Motive damals waren auch mit zum Teil fragwürdigen Annahmen vermischt, so z. B. mit der Esoterik, bestimmten Spielarten des Feminismus, einer sogenannten „Hildegard-Medizin" und noch wenig bestimmten ökologischer Tendenzen. Die wirklichen Motive für eine amtliche Bestätigung der Heiligenverehrung, besonders die persönliche Heiligkeit und der religiöse Vorbildcharakter, traten eher in den Hintergrund. In der Zwischenzeit sind diese Tendenzen eher abgeklungen oder wenigstens zum Teil von Missverständnissen befreit.
Jetzt hielt Papst Benedikt XVI. offenbar die Zeit für reif, um eine Erhebung zur Kirchenlehrerin durchzuführen. Es wurde kein förmlicher Prozess zur Heiligsprechung, wie er eigentlich nötig wäre, durchgeführt, aber der Papst erklärte am 10. Mai 2012 in Rom, dass die hl. Hildegard für die gesamte Weltkirche als heilig gilt und so auch überall verehrt werden kann. Man konnte bei dieser Erklärung vom 10. Mai jedoch nicht ganz erkennen - wenigstens zum damaligen Zeitpunkt ohne ein besonderes Wissen -, warum eine solche Bestätigung der amtlichen Verehrung notwendig war. Heute sehen wir durch die Verkündigung ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin, dass eine solche Erklärung der Heiligkeit der Hildegard von Bingen für die Erhebung zur Kirchenlehrerin wesentlich war. Es musste dafür aber kein förmlicher Prozess geführt werden. Zwar gab es in eingeweihten Kreisen immer wieder Kenntnisse, die offenbar zum Teil auf Indiskretionen zurückgingen, dass eine Erhebung der hl. Hildegard zur Kirchenlehrerin bevorstehe. Aber mehr als Gerüchte waren dies nicht. So konnte man auch den vermutlich tieferen, aber eben doch verborgenen Hintergrund der amtlichen Bestätigung ihrer Heiligkeit vom 10. Mai nur vermuten. Jetzt wird vollends klar, warum diese beiden Stationen, nämlich die Bestätigung ihrer Heiligkeit (10. Mai 2012) und die Erhebung zur Kirchenlehrerin (27. Mai 2012), innerlich zusammengehören.
Was ist nun ein Kirchenlehrer bzw. eine Kirchenlehrerin? Die Kirche der Frühzeit kannte in Ost und West Gruppen besonders herausragender Lehrer der Theologie, die eine außerordentliche Autorität für die Kirche darstellten: Im Westen waren dies Augustinus, Ambrosius, Gregor der Große und Hieronymus. In der Ostkirche waren es Basilius der Große, Gregor von Nazianz, Athanasius und Johannes Chrysostomus. Diese großen Lehrer waren zunächst auf die Zeit der Alten Kirche beschränkt, also den Bereich der „Kirchenväter". Dafür gab es auch andere Namen, wie z. B. „Säulen der Orthodoxie". Aber man hat später den Begriff des Kirchenlehrers auf große Theologen der Folgezeit ausgedehnt. Dabei spielte die Stellung des hl. Thomas von Aquin eine wichtige Rolle. Andere Lehrautoritäten aus verschiedenen Orden und theologischen Schulen folgten, wie der hl. Bonaventura, Anselm von Canterbury, Bernhard von Clairvaux, Franz von Sales, Petrus Canisius, Johannes vom Kreuz, Albert der Große, Robert Bellarmin u.a. Es sind über dreißig Kirchenlehrer geworden.
Seit langer Zeit galten und gelten vier Kriterien für den Rang eines Kirchenlehrers: die Rechtgläubigkeit der Lehre, die Heiligkeit des Lebens, eine im weiteren Sinne hervorragende wissenschaftliche Leistung und die ausdrückliche Anerkennung durch den Papst oder den Heiligen Stuhl (Approbation). Die Kirchenlehrer haben eine besondere Stellung in der Liturgie. Sie gelten als wichtige theologische Bezeugungsinstanz („locus theologicus"), nämlich als „Autorität der Heiligen" („auctoritas sanctorum"). Die Form ihrer Anerkennung als Kirchenlehrer ist in den verschiedenen Zeiten unterschiedlich. Eine zusammenfassende Festlegung ihres Ranges, dargestellt durch die genannten vier Kriterien, erfolgte im Jahr 1741 durch Benedikt XIV.
In diesem Sinne werden die Kirchenlehrer auch durch das Zweite Vatikanische Konzil beim Studium der Theologie besonders empfohlen (Dekret über die Ausbildung der Priester, Art. 19; Dekret über die christliche Erziehung, Art. 10; vgl. auch Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung, Art. 8 und 23; Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche, Art. 22). - Die evangelische Kirche kennt den Begriff des Kirchenlehrers in einem weiteren Sinne und verwendet ihn besonders für Melanchthon und Calvin, etwas später, aber nachhaltiger für Luther, und in neuerer Zeit manchmal auch für Friedrich Schleiermacher.
Eine große Wende bedeutet es aber in jüngster Zeit, dass der Begriff des Kirchenlehrers auch auf Frauen angewandt worden ist. Dies ist gewiss noch zu wenig beachtet worden, auch für die Bedeutung der Frauen für die Theologie und für das Verhältnis der Kirche zur Frau überhaupt. Im Jahr 1970 wurden gleich zwei Frauen zu Kirchenlehrerinnen ernannt, wenn auch zu verschiedenen Daten, nämlich Teresa von Avila (27. September 1970 durch Papst Paul VI.) und Katharina von Siena, zugleich Patronin Italiens (am 4. Oktober 1970 ebenfalls durch Papst Paul VI.). Damit war das Eis gebrochen. Die heilige Theresia von Lisieux (vom Kinde Jesu) folgte als nächste Kirchenlehrerin nach ihrer Heiligsprechung (1925) im Jahr 1997 (19. Oktober durch Papst Johannes Paul II.). Die heilige Hildegard von Bingen ist also die vierte Frau, die zu einer Kirchenlehrerin erhoben wird. Sie ist die erste und einzige aus dem mitteleuropäisch-deutschen Sprach- und Kulturraum.
Dies zeigt die Bedeutung der heiligen Hildegard im Chor der Kirchenlehrerinnen und Kirchenlehrer. Natürlich bedarf diese Bedeutung der inhaltlichen Entfaltung, wobei besonders auch auf das Charisma und die spirituelle Seite der Glaubenslehre abgehoben werden muss. Nach der Erhebung zur Kirchenlehrerin ist dies gewiss eine große Aufgabe der Theologie und anderer Disziplinen. Sie wird aus der reichen Hildegard-Forschung der letzten Jahrzehnte ermöglicht, die mit großen Gelehrten, wie dem Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges, aber auch durch die Erforschung des Lebens sowie der Theologie durch die Benediktinerinnen vor allem in Kloster Eibingen, - ich verzichte hier auf Namen -, sowie weiterer Wissenschaftler und Institutionen verbunden ist. Dies wäre freilich nicht möglich ohne die Veröffentlichung kritischer Editionen und wertvoller Übersetzungen der meisten ihrer Schriften, deren Erarbeitung bis heute im Gange ist. Es ist auch eine schöne Anerkennung dieser oft im Verborgenen erarbeiteten Leistungen.
Wenn von Rom weitere Informationen zu uns gelangen, kann man weitersehen.
Mainz, 29. Mai 2012
(c) Karl Kardinal Lehmann