Hildegard von Bingen - Heilige der Weltkirche

Kardinal Karl Lehmann, Bischof von Mainz (c) Bistum Mainz
Kardinal Karl Lehmann, Bischof von Mainz

Erste Stellungnahme von Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, am 11. Mai 2012

"Papst Benedikt XVI. hat am Donnerstag, 10. Mai 2012, in Rom erklären lassen, dass die liturgische Verehrung der heiligen Hildegard von Bingen ausgedehnt wird auf die Weltkirche, sodass sie in den amtlichen Heiligenkalender der Gesamtkirche aufgenommen worden ist und überall gefeiert werden kann.

Die heilige Hildegard wurde 1098 wohl in Bermersheim bei Alzey geboren und starb am 17. September 1179 im Kloster der Benediktinerinnen auf dem Rupertsberg. Diese und andere Orte lagen bis um 1800 im Erzbistum Mainz, danach verteilen sie sich auf die Bistümer Limburg, Mainz und Trier. Das Grab der heiligen Hildegard wird in der Pfarrkirche Eibingen/Rheingau verehrt. Die nahegelegene Abtei St. Hildegard hat das Gedenken und die Verehrung besonders bewahrt und gepflegt.

Hildegard wurde schon zu Lebzeiten, erst recht nach ihrem Tod, wie eine Heilige verehrt. Dies zeigen auch mehrere Lebensbeschreibungen. Sie wird nach ihrem Tod bald als „Beispiel der Heiligkeit" gerühmt und in Gottesdiensten, vor allem des Benediktinerordens, verehrt.

Eine angestrebte Heiligsprechung scheiterte wohl seinerzeit am Ungenügen einer zu allgemeinen, unbefriedigenden Lebensbeschreibung. Trotz vieler Bemühungen unterblieb eine feierliche Heiligsprechung. Die Verehrung dauerte aber besonders in den von Hildegard gegründeten Klöstern an; die Menschen strömten am 17. September an ihr Grab. Die starke Verehrung zieht sich durch das ganze Mittelalter, dennoch gab es in den liturgischen Texten und Kalendarien des Erzbistums Mainz lange Zeit keinen Festtag zu ihren Ehren.

Dies änderte sich bald im 17. Jahrhundert, als sie in das offizielle Heiligenverzeichnis der Erzdiözese Mainz aufgenommen wird. Ihre Schriften fanden immer mehr Interesse. Aus dem lokalen Kult einiger Klöster wird eine regionale Verehrung im Erzbistum Mainz. Dennoch entsteht keine weit gestreute Volksverehrung. Viele Bilder und Skulpturen bezeugen jedoch die tiefe Wertschätzung.

Im 19. Jahrhundert stieg die Verehrung sehr an, besonders im Bistum Mainz. Die Jubiläumsfeiern zu ihrem Todestag (1879, 1929) hatten einen großen Zulauf. Es gab in den Gesangbüchern der Folgezeit auch Hildegardlieder. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kam es 1940 zu einer von Rom erlaubten Ausdehnung des Festes auf ganz Deutschland. 1941 wurde ihr Fest zum ersten Mal in ganz Deutschland gefeiert.

Beim 800. Todestag im Jahr 1979 erfolgte ein vorläufiger Höhepunkt der Anerkennung Hildegards. Eine umfangreiche Forschung stellte die große Bedeutung der „deutschen Prophetin" heraus, und zwar auf vielen Gebieten: in der Medizin und in der Musik, in der Naturkunde und in ihren Visionen, in der Dichtung und ihrer Bibelauslegung. In Mainz und Bingen fanden weit beachtete Ausstellungen statt. Hildegard findet immer mehr Verehrer und wird geradezu populär. Freilich wurde sie dadurch auch gelegentlich modisch missbraucht und geriet in den Sog von Esoterikern und New-Age-Anhängern. Versuche einer kirchlichen Höherbewertung, zum Beispiel durch die Ernennung zur Kirchenlehrerin, scheiterten an dieser Instrumentalisierung.

Wenn Papst Benedikt XVI. jetzt die Verehrung der heiligen Hildegard verbindlich auf die Weltkirche ausdehnt, schafft er nicht nur eine liturgierechtliche Klarheit für ihre weltweite Verehrung, sondern auch Voraussetzungen für eine tiefere Beschäftigung mit dieser leuchtenden Gestalt. Er hat selbst in zwei Besinnungen im September 2011 auf die Heilige aufmerksam gemacht (vgl. sein Buch „Heilige und Selige. Große Frauengestalten des Mittelalters", Rom/Illertissen 2011). Die ganzheitliche Sicht von Gott, Mensch und Welt, zur Sprache gebracht von einer geistig und spirituell hoch sensiblen Frau, gibt unserer Zeit mit ihrem Suchen und Zweifeln viele weiterführende Anstöße. Diese werden uns nach der nun erklärten Bedeutung der Heiligen unseres Landes für die ganze Welt wieder neu und unverstellt beschäftigen.

Wir danken dem Heiligen Vater für die nun gefundene Form der Bestätigung der Heiligkeit der Hildegard von Bingen, ohne dass ein förmlicher Prozess geführt werden musste."

Zitiert

„Liebe Brüder und Schwestern, heute möchte ich die Betrachtung über die heilige Hildegard von Bingen wieder aufnehmen und fortführen. Diese war eine der wichtigen Frauengestalten des Mittelalters, die sich durch geistliche Weisheit und Heiligkeit im Leben auszeichnete.

Die mystischen Visionen der heiligen Hildegard ähneln denen der Propheten des Alten Testamentes: Sie drückte sich in den kulturellen und religiösen Begriffen ihrer Zeit aus und interpretierte die Heilige Schrift im Licht Gottes, indem sie sie auf die verschiedenen  Lebensumstände anwandte.So fühlten sich alle, die sie hörten, aufgefordert, ein in sich überzeugendes und ernsthaftes christliches Leben zu führen.(...)

Die Popularität, die Hildegard genoss, hat viele Menschen dazu gebracht, bei ihr Rat zu suchen. Aus diesem Grund verfügen wir über viele ihrer Briefe. Männerund Frauenklöster, Bischöfe und Äbte wandten sich an sie. Viele Antworten bleiben auch für uns wertvoll. Zum Beispiel schrieb die heilige Hildegard an eine religiöse Gemeinschaft von Nonnen einmal: ,Das geistliche Leben muss mit viel Hingabe gepflegt werden. Am Anfang ist es mühsam und bitter. Man muss manch  Äußerlichkeiten und fleischlichen Gelüsten und anderen ähnlichen Dingen entsagen. Aber wenn man sich von der Heiligkeit faszinieren lässt, dann wird eine heilige Seele die Abkehr von der Welt als süß und erfüllend empfinden. Man muss nur klug darauf achten, dass die Seele nicht verwelkt.‘ (...)

Mit der geistlichen Autorität, die sie genoss, begab sich die heilige Hildegard in den letzten Jahren ihres Lebens trotz des hohen Alters und mühseliger Umstände noch auf Reisen, um den Menschen von Gott zu erzählen. Alle hörten ihr gerne zu, auch  wenn sie einen strengen Ton anschlug: Sie fanden in ihr eine Botschafterin, eine Gesandte Gottes. (...)"

Auszug einer Katechese von Papst Benedikt XVI. bei der Generalaudienz im Vatikan am Mittwoch, dem 8. September 2010

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"Heiligsprechung"?
„Diese weitverbreitete und allgemeine Überzeugung [von Hildegards Heiligkeit] führte dazu, dass eine besondere Prozedur zur Heiligsprechung der Benediktinerin, die praktisch als bereits kanonisiert galt, unnötig oder gar überflüssig erscheinen mochte."

Benedikt griff bei der nun erfolgten, quasi nachholenden Heiligsprechung Hildegards auf eine alte Form zurück, erklärte Amato. Es handle sich um eine so genannte „gleichwertige Kanonisierung", die Papst Urban VIII. in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelt hatte und die der spätere Papst Benedikt XIV. weiterentwickelte.

„In der „gleichwertigen Kanonisierung" ordnet ein Papst an, dass ein Diener Gottes, wenn er von alters her verehrt wird und glaubwürdige Zeitzeugen seine heroische Tugend und von ihm erwirkte Wunder versichern, von der Weltkirche verehrt wird, und zwar ohne einen definitiven Richtspruch, ohne juristisches Verfahren und ohne die üblichen Zeremonien."