Predigt im Pontifikalamt anlässlich des Abschlusses des Hildegard-Jahres der Pfarrgruppe Alzey-Land „St. Hildegard" in Bermersheim v.d.H.am 15. September 2013

In den letzten Jahrzehnten gibt es keinen Zweifel mehr, dass die hl. Hildegard hier in Bermersheim als das zehnte Kind ihrer adligen Eltern Hildebrecht und Mechthild geboren wurde. Mehrere andere Orte erhalten dennoch den Anspruch aufrecht, vor allem Böckelheim. Die beiden gelehrten Benediktinerinnen M. Schrader und A. Führkötter aus Eibingen haben mit anderen den Nachweis für Bermersheim erbracht. Mit acht Jahren kam sie in die Obhut ihrer großen Lehrmeisterin Jutta von Spanheim auf den Disibodenberg. Dort lernte sie das reiche Bildungsgut der benediktinischen Tradition kennen.

Jetzt ist sie eine der vier Kirchenlehrerinnen. Und dies gilt weltweit. Das Einmalige in der Erscheinung dieser Frau haben schon die Zeitgenossen empfunden. Sie wurde gepriesen als „prophetissa teutonica", also als deutsche Prophetin, als „die rheinische Sibylle", als „Edelstein Bingens" oder auch einfach als „Posaune Gottes". Ja, Papst Eugen III., der die Visionen Hildegards kannte und prüfte, schrieb um das Jahr 1150 an die Äbtissin: „Die Scharen der gläubigen Völker, sie brechen aus in Lob über dich, du bist für viele ein Duft des Lebens geworden!"

Wir kennen dieses Lob auch in mehr weltlichen Tönen. Hildegard gilt heute vielen als die gelehrteste und klügste Frau des Mittelalters. Von keiner anderen Frau dieser Zeit haben wir ein so großes Erbe an Schriften und künstlerischen Schöpfungen erhalten. Ja, sie gilt nun auch als eine mit großer Geisteskraft und tiefer Weisheit begnadete Frau, die sogar in Darstellungen der Geschichte des Denkens einen Platz findet. Ihr universales Wissen aus ihrer ganzen Zeit lässt uns immer wieder staunen und fragen, woher sie dies alles geschöpft hat.

In diesen letzten Jahren und Jahrzehnten ist sehr viel über Hildegard und ihre Zeit geforscht worden, ganz besonders auch in der Hildegard-Abtei in Eibingen. Diese Arbeit wird gewiss auch intensiv fortgesetzt, nachdem sie jetzt zur Kirchenlehrerin und damit zur Lehrerin des Glaubens erhoben worden ist. Aber jetzt müsste alles darauf ankommen, dass wir die Bedeutung der hl. Hildegard für das kirchliche Leben unserer Gegenwart viel kräftiger herausstellen. Papst Benedikt XVI. hat ja mit Recht gesagt: „Die Heiligkeit des Lebens und die Tiefe der Lehre macht beide neuen Kirchenlehrer (also auch den hl. Johannes von Avila) für alle Zeiten aktuell." (27.5.2012) Wir haben viele Themen, an denen man dies aufzeigen kann. Aber so einfach ist es nicht, dass man nur die Zeugnisse der hl. Hildegard in unserer Gegenwart neu zitiert. Man muss schon die Gedanken in unsere gegenwärtige geistige Situation schöpferisch umsetzen, ohne die hl. Hildegard zu verbiegen.

Für die Predigt, besonders auch für ihre Grenzen, möchte ich wenigstens einen Grundakkord aus dem Denken der hl. Hildegard anschlagen, nämlich ihre Sicht der Schöpfung. Dabei darf man Schöpfung nicht einfach gleichsetzen mit Natur. Schöpfung ist für Hildegard immer ein Werk Gottes, darin der Schöpfer selbst sichtbar wird und auch heute noch in den Kreaturen wirkt. Dazu gehört nun eben auch das Loben und Preisen des Schöpfergottes. Aber darum verliert Hildegard nicht den Sinn auch und gerade für die äußere Schönheit der Schöpfung. Ich wähle zwei Beispiele dafür aus „Das Buch vom Wirken Gottes". „Ich, das feurige Leben der göttlichen Wesenheit, flamme über die Schönheit der Fluren, leuchte in den Wassern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit dem Windhauch, dem unsichtbaren Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben. Die Luft lebt nämlich im Grünen und im Blühen, die Wasser fließen, als ob sie lebten, auch die Sonne lebt in ihrem Licht ... Ich - so die Seherin - bin also als feurige Kraft in diesen Winden verborgen, und sie brennen durch mich wie der Atem ständig den Menschen bewegt und wie im Feuer die windbewegte Flamme ist. Dies alles lebt in seiner Wesenheit und in ihm ist kein Tod zu finden, weil ich das Leben bin. Ich bin auch die Vernunft, die den Windhauch des tönenden Wortes in sich hat, durch den jedes Geschöpf gemacht ist; und in das alles habe ich Leben gehaucht, sodass keines davon seiner Art nach sterblich ist; denn ich bin das Leben ...Vielmehr hat alles Lebendige in mir seine Wurzeln. Die Vernunft nämlich ist diese Wurzel; das tönende Wort aber erblüht in ihr."

Der dreifaltige Gott liebt die Welt um des Menschen willen, den er in die Mitte der Schöpfung gestellt hat. Hier bekommt der Mensch einen ganz hohen Rang: „Er schuf ihn nach seinem Bild und Gleichnis und zeichnete im Menschen alle anderen Geschöpfe nach ihrer Maßgabe ein. Denn es lag von Ewigkeit her immer fest, dass Gott Sein Werk, den Menschen, schaffen wollte; und als Er dieses Werk vollendete, gab Er ihm alle Geschöpfe, damit er mit ihnen wirke, und zwar so, wie auch Gott selbst Sein Werk, den Menschen, geschaffen hatte." Der Mensch als Gottesgeschöpf inmitten der Schöpfung bildet den Kern von Hildegards Denken. Deshalb wird immer auch die Welt, der Mensch und Gott zusammengesehen.

Man könnte eigentlich über dieses außerordentlich anspruchsvolle Denken über den Menschen irre werden, weil wir so oft den Übermut des Menschen, der sich in die Mitte der Welt setzt, bitter erfahren haben. Aber Hildegard weiß zu sehr um die gefährdete Stellung des Menschen in der Welt, wenn er sich von Gott löst und rücksichtslos sich als die Mitte der Welt aufführt. Man sieht dies vielleicht nicht besser als in der so genannten „Klage der Elemente", die rufen: „Wir können nicht laufen und unseren Weg demgemäß vollenden, wie unser Gebieter uns bestimmt hat. Denn die Menschen stürzen uns mit ihren bösen Werken um, wie mit einer Mühle. Daher stinken wir vor Pest und vor Hunger nach der ganzen Gerechtigkeit ... Auch die Grünkraft welkt wegen des ungerechten Aberglaubens der verkehrten Menschenmassen, die jede Angelegenheit nach ihren Wünschen bestimmen und sagen: Wer ist jener Herr, den wir nie gesehen haben? ... Die ganze Schöpfung strebt nach ihrem Schöpfer und versteht offensichtlich, dass einer sie erschaffen hat; der Mensch ist aber ein Rebell und zerteilt seinen Schöpfer in viele Geschöpfe." Der Mensch soll aber seine Fähigkeiten gebrauchen und diese Welt in aller Nüchternheit durchforschen, ja er soll sie ganz und gar durchdringen. Hildegard denkt erstaunlich „modern" vom Menschen, wenn wir dies einmal in der Sprache von heute sagen dürfen.

Hildegard kann dies alles letztlich nur sagen, weil sie immer schon auf den Menschen schaut, der Jesus Christus ist. „Denn der Vater trug immer in seinem Willen, dass er Mensch werde." „Alle guten Werke nämlich hat der Vater in seinem Sohn gewirkt, weil das in keinem anderen geschehen konnte ... Er kam deshalb für die Befreiung des Menschen auf die Erde und kaufte den Menschen frei, den niemand anderer freikaufen konnte; denn der Vater ordnete an, dass Er so komme, wie der Prophet David unter Eingebung des heiligen Geistes sagt." (335) So kann man auch verstehen, dass hinter den Aussagen Hildegards zur Schöpfung und zum Menschen immer die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus steht.

Hildegard sieht Mensch und Welt, Leib und Seele, Natur und Gnade immer in ihrem innersten Zusammenhang. Die Kreaturen ergänzen sich und ordnen sich einander zu. So sind sie immer aufeinander abgestimmt und bilden - dies ein Grundwort Hildegards - eine Symphonie. Vor diesem Hintergrund spielen die Farben und ihr Licht, besonders das Grüne (viriditas) eine Rolle. Hier erhalten auch der menschliche Leib und alle irdischen Dinge eine äußerst positive Sicht, besonders auch die Geschlechtlichkeit des Menschen und das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Sie bekämpft alle damaligen und heutigen Verächter der Schöpfung. Gerade eine Ordensfrau verteidigt den menschlichen Leib und die geschaffene Wirklichkeit, besonders auch die Ehe (gegen die Katharer ihrer Zeit).

Hildegards wichtigstes Anliegen mit ihrem Werk besteht darin, den Menschen den Weg zum Heil zu weisen. Sie ist davon überzeugt, dass Gott bereits seine Wege zu den Menschen gegangen ist und auch weiterhin geht. Wenn Gott diesen Weg gegangen ist, vor allem auch im Spiegel seiner Geschöpfe, und den Menschen dadurch erreichen konnte, kann der Mensch auch zu Gott gelangen. Dies kommt gut im Titel des Erstlingswerkes der hl. Hildegard zum Ausdruck: Scivias - Wisse die Wege, was man gewiss auch mit „Wegweiser" oder „Wegweisung" übersetzen kann. Dies ist eigentlich der ganze Sinn der Lehre der hl. Hildegard. Sie zeigt dies besonders in vielen Werken, in der Musik, in den Erkenntnissen der Natur mit ihren Heilungschancen, ja an den kostbaren Elementen der Erde wie den Edelsteinen, aber auch im Kampf zwischen den Tugenden und den Lastern. So bekommen Umkehr und Entscheidung bei Hildegard eine tragende Bedeutung.

So und noch tiefer müssten die Grundworte der hl. Hildegard gedeutet werden, z.B. das Wort Gottes und die Heilige Schrift, das Verständnis ihrer einzigartigen Visionen, Jesus Christus, Maria und die Heiligen, die Kirche usw. Aufschlussreich sind auch ihre Bilder, wie z.B. Weg und Rad. Dies soll uns dazu verlocken, die hl. Hildegard wirklich von der Mitte ihrer Botschaft aus zu verstehen. Hier ist sie wirklich eine Lehrerin des Glaubens, auch für heute. Wir können sie in vielen Spuren unserer Heimat wiederentdecken, wie uns z.B. P. Dr. Josef Krasenbrink in seinen verschiedenen Schriften gezeigt hat. Die Erhebung zur Kirchenlehrerin macht uns eine weite Türe auf, um ihr mit einem neuen Sinn und frischen Augen zu begegnen. So gibt sie uns auch in vielen kurzen Worten eine Verheißung für ein menschenwürdiges Leben aus dem Glauben in dieser Welt. So heißt es im Brief an Papst Anastasius IV.: „Das Herz aber bringt Rettung, wenn das Morgenrot wie der Glanz des beginnenden Sonnenaufgangs sichtbar wird. Was jedoch in neuem Verlangen und neuem Eifer folgt, ist unsagbar."

Es ist schon eine gewaltige Spannung: hier das kleine Bermersheim mit seinen ca. 380 Einwohnern, darunter 80 Katholiken, die kleine Taufkirche, in denen evangelische und katholische Christen ihre Gottesdienste feiern (Simultaneum) - und dann die Erhebung dieser Hildegard zur Lehrerin des Glaubens für die Kirche, die Verehrung in der ganzen Weltkirche, die Studien der Wissenschaftler aus dem ganzen Erdkreis.

Wir danken. Wir haben aber auch wieder Mut zu unserem Glauben. Er ist oft bescheiden und klein, manchmal auch feige und schwach. Aber Gottes Kraft kann ihn groß und stark machen. Dann kann er Berge versetzen. Auch dies lehrt uns das Fest der hl. Hildegard.

Ich möchte noch etwas erwähnen: Das Fest der hl. Hildegard hat weite Teile der Gemeinden im Dekanat Alzey-Land zu einer eindrucksvollen Kooperation zusammengeführt. Dies ist eine besondere Frucht, gewiss auch der hl. Hildegard. Ich hoffe und bitte Sie alle, diese Gemeinsamkeit fortzusetzen und danke allen, die dafür mitgearbeitet haben. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz