Fast 2000 Jahre waren die Kirchenlehrer ausnahmslos Männer. Bis 1970 zählen wir 30 Theologen, denen diese Auszeichnung zu Gute kam. Allein im 20. Jahrhundert sind es sieben neu ernannte Kirchenlehrer. Die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bringt eine unübersehbare Wende, denn von 1970 bis zum 7. Oktober 2012 sind es vier Frauen, die zu Kirchenlehrerinnen erhoben worden sind: die hl. Teresa von Avila am 27. September 1970 und die hl. Katharina von Siena am 4. Oktober 1970, beide durch Paul VI., sowie die Ernennung der Thérèse von Lisieux am 19. Oktober 1997 durch Johannes Paul II.
Dabei muss man auf den Rang und die Bedeutung dieser heiligen Frauen schauen. Teresa von Avila und Katharina von Siena zählen in Spanien und in Italien zu den großen literarischen Gestalten. Katharina von Siena steht z.B. neben Dante und Petrarca. Katharina ist die Hauptpatronin Italiens, Teresa ist die Patronin Spaniens. Die „kleine hl. Theresia" ist durch ihren Glaubensweg durch härteste Prüfungen hindurch im großen Dunkel des reinen Glaubens an die Liebe Gottes Vorbild eines authentischen „kleinen Weges" zur Vollkommenheit. Sie ist die zweite Patronin Frankreichs und die Hauptpatronin aller kirchlicher Missionen. Besonders die große Teresa und Katharina von Siena sind durch ihre weit gespannte Tätigkeit für eine tiefe Erneuerung der Kirche das, was man „starke Frauen" nennen kann. Sie zeigen vor allem auch in Bezug auf ihr Verhältnis zu den weltlichen und kirchlichen Herrschern ihrer Zeit ein sehr mutiges Verhalten. Sie beschworen in Briefen und persönlichen Besuchen weltliche und geistliche Würdenträger hin zu einer Gesinnungsänderung und scheuten sich nicht vor kräftigen Worten.
Am 7. Oktober kommt die hl. Hildegard von Bingen hinzu (1098 bis 1179). Auch bei ihr existiert eine ausgedehnte Korrespondenz mit Päpsten, Königen, Fürsten, Bischöfen, Ordensleuten und Laien. Sie unternahm Predigtreisen vor allem an den Rhein und nach Süddeutschland, wo sie Volk und Klerus Umkehr predigte. Auch sie offenbart eine ungewöhnliche dichterische Begabung. Wenn die anderen drei genannten heiligen Frauen aus Italien, Spanien und Frankreich stammen, so ist die hl. Hildegard von Bingen die erste Frau aus dem mitteleuropäischen und besonders deutschsprachigen Bereich, die zu dieser Ehre gelangt.
Ich glaube, dass man die Ernennung dieser vier heiligen Frauen durch drei Päpste innerhalb von gut 40 Jahren in ihrer Bedeutung bisher nicht genügend erkannt hat - und dies trotz aller feministischen und emanzipatorischen Rufe nach einer angemesseneren Wertung und Stellung der Frau in der Kirche. Auch wenn vor allem die hohe Spiritualität dieser heiligen Frauen im Vordergrund steht, so darf man nicht vergessen, dass sie zugleich hoch gebildet waren und auch ein großes Organisationstalent hatten. Die besondere frauliche Sensibilität hat aber auch dazu geführt, dass wir im Blick auf die von ihnen stammenden geistlichen Zeugnisse den besonders ab dem Hochmittelalter bis heute auf eine sehr rationale Weise zugespitzten Begriff der Theologie aufbrechen und in gewisser Weise weiten müssen. Es wird noch zu zeigen sein, wie die Theologie einen besonderen Beitrag von diesen Frauen geschenkt bekommen hat und dass sie besonders „in der Lage (sind), mit der ihnen eigenen Intelligenz und Sensibilität über Gott und die Glaubensgeheimnisse zu sprechen".
Ich will in wenigen Zügen die wichtigsten Stationen des Lebens der hl. Hildegard skizzieren. Sie wurde 1098 in Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen geboren und stammte aus einer vielköpfigen adeligen Familie. Sie wurde von Geburt an von ihren Eltern zum Dienst an Gott geweiht. Sie lebte in einer Klause und schließlich (wohl ab 1106) in einem kleinen Klausurkloster für Frauen auf dem Disibodenberg bei Bingen. Mit 16 Jahren entschied sich Hildegard durch die monastischen Gelübde für das klösterliche Leben (ca. 1115). Nach dem Tod ihrer Lehrmeisterin Jutta von Sponheim wird sie im Jahr 1136 zur Nachfolgerin, zur Meisterin („magistra") gewählt. Mehr als 30 Jahre lebte und wirkte Hildegard in der Abgeschiedenheit des kleinen Klosters. Sie hat von hier aus trotz einiger Schwierigkeiten zwei weitere Klöster gegründet, nämlich auf dem Rupertsberg (um 1150), weitgehend durch die Schweden im Dreißigjährigen Krieg zerstört (1632 ), und Eibingen (um 1165), das heute noch - wenn auch ein wenig entfernt - das Nachfolgekloster der hl. Hildegard ist. Die hl. Hildegard hat trotz ihrer Leiden und Schmerzen, die besonders den letzten Abschnitt ihres Lebens kennzeichnen, vier große Reisen (1158-1170) in zahlreiche Städte des Rheinlandes und des Südwestens unternommen und gerade auch in den Konventen der Klöster wie auch auf den Marktplätzen der Städte gegen das verweichlichte Leben vor allem des Klerus gepredigt. Sie übt darüber hinaus heftige Kritik an ihrer eigenen Zeit, die sie ein „weibisches Zeitalter" („tempus muliebre") nennt. Vom Kampf gegen die Sekte der Katharer wird noch die Rede sein.
Hildegard hatte schon früh die Gabe einer höchst originellen visionären Schau. „Ich sehe diese Dinge - so schreibt sie - nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren; ich sehe sie vielmehr einzig und allein in meinem Inneren, aber mit offenen leiblichen Augen, sodass ich niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag wie bei Nacht." Vieles erinnert an die Propheten des Alten Testaments: „Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist weitaus lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an diesem Licht zu erblicken. Es wird mir bezeichnet als ‚der Schatten des lebendigen Lichtes‘. In diesem Licht sehe ich zuweilen, wenn auch nicht oft, ein anderes Licht, das mir ‚das lebendige Licht‘ genannt wird. Wann und wie ich es schaue, kann ich nicht sagen. Aber solange ich es schaue, ist alle Traurigkeit und alle Angst von mir genommen, sodass ich mich wie ein einfaches junges Mädchen fühle und nicht wie eine alte Frau." Nach ihrem 40. Lebensjahr (1141) kommt es zu einem gewaltigen Durchbruch der Visionen. Aus der stillen Seherin wird eine religiöse Prophetin. Immer deutlicher vernimmt sie in ihrem Inneren geradezu einen Befehl: „Schreibe auf, was du siehst, und sage, was du hörst." Der hl. Bernhard von Clairvaux, eine der höchsten Autoritäten der Kirche ihrer Zeit, ihr „ungekrönter Herr", bestätigt ihre prophetische Gabe. Ja noch mehr: Auf der Synode von Trier (1147/48) las Papst Eugen III. selbst aus Hildegards Schriften vor. Er hatte sie durch eine Kommission überprüfen lassen. Er forderte Hildegard nun auf, ihre Visionen aller Welt mitzuteilen. Daraus entstand dann ihre erste große Schrift „Wisse die Wege" (Scivias, 1141-1151).
Hildegard ist in ihrem Wissen und in ihrer Sprachkraft ein Rätsel. Wir wissen wenig über ihren wissenschaftlichen Bildungsgang. Schon früh kannte sie die Texte der Regel des hl. Benedikt. Im Stundengebet lernte sie die Psalmen und die Hl. Schrift kennen. Sie besaß offenbar eine große Kenntnis der Kirchenväter. Die 390 Briefe zeigen eine reiche Korrespondenz mit großen Gelehrten ihrer Zeit. Sie hat sich aber immer wieder als eine „Indocta" verstanden, also als „einfältige Frau". Sie sei keine Gelehrte. Ganz gewiss hat die Forschung der letzten Jahrzehnte aufgezeigt, dass gerade die Frauen in den Klöstern, besonders wenn sie wie in den Gemeinschaften der hl. Hildegard aus dem Adel stammten, sehr viel mehr Zugang zu den klassischen und gegenwärtigen Bildungsgütern hatten, als man dies vorher weitgehend dachte. Die Rede von einer „Indocta" ist jedoch eine Selbstcharakteristik, die uns angesichts ihrer Gelehrsamkeit immer wieder schmunzeln lässt. Denn sie beherrscht ihre Theologie ebenso wie die zeitgenössische Philosophie, kennt sehr genau das Alte Testament und ist auch in den Naturwissenschaften wie in der Medizin zu Hause. Sie weiß über die Schönheiten der Edelsteine zu reden. Sie ist Ärztin und Äbtissin, dichtet Hymnen und schafft andere musikalische Kompositionen. Sie verfasst eine ethische Grundstudie und ein großes Werk über die Welt, eine spirituell orientierte Kosmologie und darin eine Lehre vom Menschen und seinem Heil.
Dies darf aber nicht heißen, dass die „prophetissa teutonica", wie man sie zu Lebzeiten schon nannte, nicht auch die Geschicke von Welt und Kirche kannte und unwidersprochen hinnahm. Sie schreibt den Päpsten Eugen III., Anastasius IV., Hadrian IV. und Alexander III., an die Erzbischöfe von Mainz, Trier, Köln und Salzburg. In einem Schreiben an Kaiser Barbarossa wendet sich Hildegard mit aller Energie gegen die Papstpolitik. Kaiser und Könige, Bischöfe und Äbte, Priester und Laien gehören zu ihren Briefpartnern.
So ist sie eine „Posaune Gottes", eine „flammende Leuchte im Hause Gottes", eine „Mitwisserin Gottes". „Keine Stimme wird laut über das Unerhörte solchen Tuns. Alle sind ergriffen, begeistert - oder getroffen in der Wurzel ihrer Sündhaftigkeit, aufgerüttelt zu neuer, heiliger Lebensenergie, Sünder bekehren sich, Ungläubige werden gläubig, Entzweite umarmen sich." Immer mehr wird sie in hohem Maß anerkannt. So sagt Abt Rupert von Königstal nach der Lektüre ihrer Schriften: „So etwas bringen die scharfsinnigsten Professoren des Frankenreiches einfach nicht zustande. Die machen mit trockenem Herzen und aufgeblasenen Backen nur ein großes dialektisches Geschrei und verlieren sich in rhetorischen Spitzfindigkeiten. Diese gottselige Frau aber, sie betont nur das Eine, Notwendige. Sie schöpft aus ihrer inneren Fülle und gießt sie aus." Zusammenfassend schreibt Maura Böckeler: „So verlief die Sendung Hildegards in die Kirche ihrer Zeit. Letztlich ist sie nichts anderes als ein lebendiges, aus glühendem Herzen und geistberührter Seele hervorbrechendes Echo auf die Reform Gregors VII., des ehemaligen Mönches von Cluny. Immer erweckt der Geist Gottes in Zeiten, da die Liebe erkaltet, Männer und Frauen, die wie ein Pfingststurm das Feuer, das vom Himmel her in sie hineingefallen ist, über den Erdkreis jagen."
Manches an ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Spiritualität können wir schwer erklären. Auch wenn sie durch das Stundengebet mit Grund- und Schlüsselworten der lateinischen Sprache vertraut ist, so kommt ihr Latein doch rasch an Grenzen. In ihrer „Lieblingsnonne" und Sekretärin Richadis von Stade und in ihren Sekretären Volmar, später Gottfried und Wibert von Gembloux hat sie tüchtige Mitarbeiter, die vor allem ihre Visionen zur Darstellung bringen.
Über einige Jahrzehnte vor allem des vergangenen Jahrhunderts war das neue Interesse an Hildegard sehr stark auf Randerscheinungen in ihrem Leben und Wirken gelenkt worden. Es ging um die Hildegard-Medizin, um eine direkte Anwendung ihrer Heilkunde, um Esoterik, um ihre Verwandtschaft mit dem heutigen Feminismus, ja streckenweise auch um Magie. Dies sind gewiss Ausstrahlungen der Kernideen und Grunderfahrungen der Prophetin vom Rhein. Aber ohne kritische Rückbindung an die zentralen Zeugnisse und Schriften sind dies letztlich doch Abwege, die den Zugang zur authentischen Hildegard eher verstellen. Um dieses Zentrum zu verstehen, muss man vor allem auf die drei Schriften zurückgehen, die Hildegards Visionen enthalten: das schon genannte Werk Scivias, Wisse die Wege (1141-1151), den Liber Vitae Meritorum (1158-1163), das Buch der Lebensverdienste, und den Liber Divinorum Operum (1165-1174), das Buch der göttlichen Werke. Dieses letzte Buch mit den Kosmos-Visionen gilt als ihre höchste und zentrale schöpferische Leistung. Zwischen 1150 und 1160 entstehen die naturkundlichen und medizinischen Schriften, die nach heutiger Erkenntnis Kompilationen aus volkskundlichen Erfahrungen, klassischer Überlieferung und christlicher Tradition darstellen. Bereits im 13. Jahrhundert wurde das nicht erhaltene Originalwerk aufgeteilt „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum" in „Physica" und „Causae et curae". Hinzukommen die 390 Briefe, von denen schon die Rede war.
Daneben gibt es kleinere Schriften wie die Erklärungen der Benediktsregel, der Evangelien, des Credo und Lösungen vorgelegter theologischer Fragen, Heiligenviten, vor allem aber ein umfassendes lyrisches und musikalisches Opus (Ordo virtutum, Hymnen, Sequenzen). Diese Gedichte, Lieder und Gesänge sind vielfach übersetzt und teilweise oft unter dem Titel „Symphonia" veröffentlicht worden. Das Kölner Ensemble für Musik des Mittelalters, Sequentia, hat das Gesamtwerk Hildegards bei der Deutschen Harmonia Mundi eingespielt (5 CDs).
Die hl. Hildegard gilt als eine in der europäischen Geistesgeschichte einzigartige Erscheinung. Man hat sie auch die klügste Frau des Mittelalters genannt. Von keiner Frau des Mittelalters haben wir so viele literarische Zeugnisse erhalten bekommen.
Es gibt in dieser Hinsicht einen starken Wandel in der Einschätzung der Bedeutung der hl. Hildegard, z.B. auch im Verhältnis zur Philosophie und zur Philosophiegeschichte. Die älteren verdienstvollen Werke von E. Gilson, B. Geyer, M. de Wulf nennen die hl. Hildegard in diesem Kontext überhaupt nicht. Eine aufschlussreiche Stellung nimmt K. Flasch ein, der in der ersten Auflage seines bekannten Buches „Das philosophische Denken im Mittelalter" sie nicht einmal beim Namen nennt, in der zweiten Auflage aber ausführlich behandelt, wenn auch etwas klischeehafte Urteile bleiben. Aber in angesehenen Lehrbüchern und Synthesen erhält sie heute einen beachtlichen Platz, der philosophisch begründet wird. Dabei wird jedoch nach dieser Auffassung das Denken Hildegards, das auf einen „Symbolismus" des 12. Jahrhunderts eingegrenzt wird, von einer neuen rationalen Reflexion abgelöst, der die Zukunft gehöre.
In einer Zeit, die auch in der Philosophie in reichem Maß den eigenen Rang des Bildes, der Metapher, des Symbols und der Narrativität entdeckt hat und dabei auch den Sinn des Wortes „Vernunft" entgrenzt, ist dies eine keineswegs akzeptable Verkürzung. Sie entspricht auch nicht der heutigen hermeneutischen Situation.
Es gab bei aller Anerkennung der „prophetissa teutonica" im Lauf der Jahrhunderte - wie schon gesagt - immer auch ein Auf und Ab in der Rezeption und in ihrer Wertschätzung. Wenn wir heute die hl. Hildegard mit sehr viel mehr Differenzierungen verstehen, ist dies auch ein Erfolg der immens fleißigen wissenschaftlichen Erforschung im 20. Jahrhundert. Außer dem Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges, dem wir viele Veröffentlichungen verdanken, ist es nicht zuletzt ein Hauptverdienst der Abtei Eibingen, viele aufklärende Studien und vor allem kritische Editionen und Übersetzungen aufbereitet und zur Verfügung gestellt zu haben. Ich nenne nur die Schwestern Maura Böckeler, Angela Carlevaris, Adelgundis Führkötter, Marianne Schrader, Walburga Storch, Cäcilia Bonn und heute fortgesetzt von Schwester Maura Zátonyi , unterstützt von den Äbtissinnen Schwester Edeltraud Forster und Schwester Clementia Killewald. Dazu zählen noch viele Forscherinnen und Forscher im In- und Ausland, nicht zuletzt auch Übersetzerinnen und Übersetzer.
Es besteht kein Zweifel, dass die hl. Hildegard gerade auch infolge dieser neueren Forschungen mit vielen guten Gründen zur Ehre einer Kirchenlehrerin erhoben wird. Gerade durch diese Auszeichnung entsteht aber auch eine andere Aufgabe. Wir dürfen nämlich nicht nur nach rückwärts schauen und ihre geschichtliche Gestalt bewundern und preisen. Wenn sie nun durch ihr Leben in Heiligkeit, durch ihre tiefe Erkenntnis göttlicher Dinge und durch ihre vielfältige Spiritualität für die ganze Kirche als vorbildlich erklärt wird, dann müssen wir ihre Bedeutung auch in unsere Gegenwart übersetzen. Dies ist, so bin ich der Meinung, der schwierigere Teil des Auftrags, den uns das Fest anvertraut.
Schon die letzten Jahrzehnte, die die Popularität der hl. Hildegard außerordentlich verbreitet haben, sind uns dabei eine Warnung. Wir dürfen die hl. Hildegard nicht kurzsichtig bestimmten Bedürfnissen von heute ausliefern. Wir haben zur Genüge erlebt, wie einzelne Phänomene, wie die Hildegard-Medizin und viele esoterische Einzelheiten, nicht Randerscheinungen bleiben, die von der radikalen Mitte ihres Denkens in ihrer begrenzten Bedeutung sichtbar gemacht werden können, sondern selber in das Zentrum des Interesses rücken. Es ist eine große Hilfe, dass wir in den letzten Jahrzehnten die drei großen zentralen Schriften mit den Visionen in ihrem ganzen Gewicht, einschließlich der Illustrationen, tiefer verstehen lernten. So zeigt es sich, dass es bei der hl. Hildegard besonders schwierig ist, einzelne Details, und seien sie noch so aufschlussreich, aus dem Ganzen zu isolieren.
Aber gerade der universale Zusammenhang aller Dinge aus der radikalen theologischen und spirituellen Mitte her macht auch eine Umsetzung ihrer Bedeutung für heute nicht leicht. Wir sind in der Theologie daran gewohnt, dass wir heute in relativ abstrakten und rationalen Kategorien denken und sprechen. Natürlich gibt es bei Hildegard diese Rationalität auch, die freilich immer auch durchdrungen ist von einer inneren Nähe, von der Verwandtschaft zur Sache („connaturalitas"). Hier kommt die platonisch-augustinische Linie im Verständnis menschlicher Erkenntnis zur Geltung: Man muss besonders in der personalen Begegnung und in Beziehungen des Glaubens zu einer bestimmten Sache und erst recht zu einer Person eine gewisse Zuneigung und Sympathie haben, um sie wirklich verstehen zu können. Heute nennen wir dies Empathie. Bei Hildegard ist dies die Liebe.
In der Mitte der theologischen und spirituellen Gedanken der hl. Hildegard steht die Schöpfung. Schöpfung ist aber nicht einfach Natur im heutigen Sinne. Sie weist nämlich immer schon auf ihren Urheber, Gott den Schöpfer, zurück. Er hat ganz bewusst den Menschen in die Mitte der Schöpfung gestellt. Es ist Gottes auserwählende Liebe zum geschöpflichen Dasein. Dies zeigt sich besonders in der Vernunftanlage („rationalitas") des Menschen, die ihn befähigt, Gott und in ihm alle Dinge zu erkennen, ihn zu loben und die Absicht Gottes in der Welt zu verwirklichen. Dadurch wird der Mensch von Gott geehrt. Gott bezieht also den Menschen in seine eigene Liebe zur Schöpfung ein. Aber dabei kann der Mensch versagen und die Schöpfung missbrauchen. Es gibt bei der hl. Hildegard eine richtige „Klage der Elemente". Aber deswegen nimmt Gott dem Menschen nicht die Größe seiner Schöpfung. Der Mensch soll diese seine Welt in aller Nüchternheit durchforschen, ja er soll sie ganz und gar durchdringen (perpenetrare). Er soll sich selbst in seiner schöpferischen Begabung vor Gottes Angesicht in der Mitte der Schöpfung verwirklichen. Aber er soll sich nicht selbst ins Zentrum der Welt stellen. Die ganze Schöpfung dreht sich hin zu Gott. Sie dreht sich nicht einfach nur um den Menschen. Diese Sicht des Menschen ergibt eine eigentümliche, für uns ungewohnte Stellung. Aber wir dürfen diese nicht im neuzeitlichen Sinne anthroprozentrisch verstehen, sodass der Mensch sich und seinen Bedürfnissen sowie Zielen alles unterordnet. Die anthropologische Stellung bringt zugleich eine sehr umfassende und ausgewogene Verhältnisbestimmung von Gott, Mensch und Welt.
Dies hat auch erhebliche Konsequenzen für das Verständnis der geschaffenen Wirklichkeit. Hildegard sieht Mensch und Welt, Leib und Seele, Natur und Gnade nie als isolierte Einzelerscheinungen. Gerade die Anthropologie reicht weit in die Kosmologie und damit auch in die Ökologie hinein. Die ganze Schöpfung erscheint immer wieder in der Verknüpfung eines lebendigen Zusammenhangs aller Erscheinungen. Hildegard benutzt für diesen innersten Zusammenhang der ganzen Schöpfung, vor allem auch für ihre „Stimmigkeit", worin sich die Kreaturen zuordnen und ergänzen, gerne das Wort „Symphonia", und dies besonders in den Gedichten und Gesängen. „Und so hat jedes Element seinen eigenen Klang, einen Urklang aus der Ordnung Gottes. All dieses Tönen aber vereinigt sich wie der Zusammenklang aus Harfen und Zithern." In dieser Symphonie wird die ganze Welt umfasst. „Von den kleinsten Dingen des Alltags bis hinein in die Unermesslichkeit der Sternenwelten, und mitten darin nun den Menschen, der da ist das Herz der Welt. Dass der ganze Leib Licht werde und lauter Musik, dass der ganze Kosmos zum Klingen komme und zu einer Harmonie, darin ist wohl die unvergleichliche Spiritualität dieses Weltbildes zu sehen, das immer nur von der Heilsgeschichte her zu deuten ist." Gerade in diesem Zusammenhang spielen die Farben auch eine große Rolle. Es ist besonders die „viriditas", was man mit Grünkraft übersetzen könnte. Dies ist ein Herzwort der Prophetin. Physische Dimension und seelische Realität werden hier eins. Damit ist das Leben der Schöpfung gemeint, aber auch die Erneuerung durch den hl. Geist. Durch die Gewalttätigkeit des Menschen ist diese Grünkraft der Schöpfung geschwächt. Sie wird vom Verdorren bedroht und bedarf ständiger Pflege. Doch bleibt sie eine Kraft aus der Güte Gottes, die in der Lage ist, alles zu erneuern. „Von der Sterblichkeit geht kein Leben aus, sondern Leben besteht eben nur im Leben. Kein Baum grünt ohne Kraft zum Grünen, kein Stein entbehrt der grünen Feuchtigkeit, kein Geschöpf ist ohne diese besondere Eigenkraft, die lebendige Ewigkeit selber ist nicht ohne die Kraft zum Grünen." Der Mensch muss sich immer wieder aus der Enge seines in sich zentrierten Ichs in die Weite führen lassen. Aus der Dürre hin zur grünenden Kraft, die besonders auch dem Gottesgeist zu eigen ist.
Es müsste jetzt eigens noch gezeigt werden, wie die Schöpfung ganz eng mit Jesus Christus verknüpft ist. Im Grunde zielt die Schöpfung auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Erst von ihm her wird alles wahr, was wir über die Schöpfung sagten. Dazu gehört aber auch die Einsicht, dass die Schöpfung vergänglich ist, aber durch die Auferstehung Jesu Christi und der Menschen gerettet wird. Hildegard blickt immer auch auf diese Vollendung. „Denn wer den Acker seines Leibes mit Umsicht („discrete") kultiviert, dem wird das Hereinbrechen des Endes nicht schaden, weil die Musik des hl. Geistes (symphonia Spiritus Sancti) und ein Leben in Freude (vita laeta) ihn aufnehmen." Auch hier gibt es und zwar erst recht eine „Symphonia" der untereinander eng verbundenen Glaubensgeheimnisse. Hier gebraucht Hildegard immer wieder das Bild des Kreises.
Unterhalb und in der Folge dieser tiefen Grundlagen werden Konsequenzen sichtbar, die auch einen hohen praktischen und ethischen Rang haben. Die hl. Hildegard betrachtet mit großer Entschiedenheit unsere Welt als von Gott gut geschaffen. Sie schließt nicht die Augen vor der Sünde und dem Bösen, die viel Zerstörung und Disharmonie in die Schöpfung brachten. Deshalb kommt alles auf die Umkehr des Menschen an. Mit dieser zuversichtlich gestimmten Schöpfungstheologie kämpft Hildegard aber gegen einen in der zeitgenössischen Theologie durchaus spürbaren Einfluss des Neuplatonismus und ganz besonders gegen alle manichäisch-dualistischen Tendenzen, die den Rang der Materie herabsetzen und abwerten. Dies wird bei Hildegard vielleicht am stärksten sichtbar in der sehr positiven Sicht der Leiblichkeit und in einer immer wieder überraschend unbefangen betrachteten Geschlechtlichkeit des Menschen. Dies hat bei Hildegard auch Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Sie denkt zwar in der Beziehung zwischen beiden durchaus konservativ im Sinne einer Unterordnung der Frau unter den Mann. Aber innerhalb dieses Gefüges gibt es doch ganz kräftige korrigierende Akzente. So gibt es eine sonst keineswegs selbstverständliche Gleichrangigkeit der Gottebenbildlichkeit des Mannes und der Frau. Dabei wird auch der menschliche Leib in diese Gesamtwertung einbezogen. Jungfräulichkeit und Mutterschaft werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in einer wechselseitigen Bedingtheit dargestellt. Bei allen Einflüssen Augustins wird die Ehe positiv umschrieben. Die Frau ist bei Hildegard nicht schlechthin schwach, sondern „mollioris roboris", was man mit „von sanfterer Kraft" übersetzen könnte, so wie die männliche Stärke durch „mansuetudo" modifiziert werden muss, also durch Milde.
Dies ist auch der Hintergrund, warum die hl. Hildegard vor allem in ihren älteren Jahren heftig gegen die sogenannten Katharer ankämpft, eine sektenähnliche Bewegung, die zwar aszetisch motivierte Wurzeln hat, aber dennoch zu einer grundsätzlich negativen Bewertung vor allem des geschaffenen Leibes kam. Die schon erwähnten Predigtreisen Hildegards an den Rhein und in den Südwesten sind von der Abwehr dieser dualistisch eingefärbten Bewegung motiviert. Es gibt bei den Katharern eine besonders dramatische Kritik der Ehe, aber auch an dem Status der Frau. Zum Teil stehen wohl bei den Katharerinnen auch sexuelle und häusliche Gewalterfahrungen im Hintergrund: „Die Ehe hat keinen Wert"; „Frauen sind Dämonen". Hier wird die hl. Hildegard von ihrer Spiritualität und Theologie her eine heftige Bekämpferin dieser häretischen Bewegung; Hildegard hat bei der Verteidigung des menschlichen Leibes und der geschaffenen Wirklichkeit überhaupt durch ihre Stellung als Ordensfrau eine eigene Glaubwürdigkeit.
Ich bin gewiss, dass diese Bedeutung der hl. Hildegard für uns heute in vielen Hinsichten noch ergänzt und vor allem vertieft werden kann. Diese Umsetzung kann selten unmittelbar sein. Hildegard bleibt uns bei aller Nähe in manchen Gedanken fremd und bedarf einer sorgfältigen Interpretation. Dann werden wir auch in einer authentischen Weise bereichert. Die nächste Zeit muss nach vielen gründlichen historischen und editorischen Arbeiten dieser Aufgabe gehören. Dabei ist die systematische Theologie in besonderer Weise gefordert. Aber dabei werden wir viel Geduld brauchen (vgl. den geplanten Hildegard-Kongress im Februar/März 2013 in Mainz).
Vielleicht darf am Ende das stehen, was der Chronist über die letzten Lebensjahre der hl. Hildegard berichtet: „Denn es brannte in ihrer Brust eine so gütige Liebe, daß sie keinen aus ihrem Wirkungskreis ausschloß. ... Da aber ‚der Brennofen die Gefäße des Töpfers prüft‘ (Sir 27,6 Vg.) und ‚die Tugendkraft in der Schwäche vollendet wird‘ (2 Kor 12,9), blieb sie etwa seit ihrer Kindheit nicht verschont von häufigen und fast ununterbrochenen schmerzhaften Krankheiten, so daß sie äußerst selten ihre Füße zum Gehen nutzte, und da die gesamte Konstitution ihres Fleisches unbeständig war, war ihr Leben wie das Abbild eines kostbaren Todes. Was aber den Kräften des äußeren Menschen fehlte, das wuchs dem inneren Menschen durch den Geist des Wissens und der Stärke zu, und während ihr Körper verfiel, brauste auf wunderbare Weise die Glut ihres Geistes auf."
Der Schluss dieser „Vita" hebt hervor, dass Hildegard nachdem sie „dem Herrn in zahlreichen schweren Kämpfen treu gedient hatte [Lebensüberdruss ergriff] und sie begehrte täglich, ‚abgelöst zu werden und bei Christus zu sein‘ (Phil 1,23). Gott erhörte ihren Wunsch, und wie sie es selbst zuvor begehrt hatte, offenbarte er ihr im prophetischen Geist ihr Ende, das sie auch ihren Schwestern ankündigte. Nachdem sie sich eine Zeitlang mit ihrer Krankheit abgemüht hatte, wanderte sie also im 82. Jahr ihres Lebens am 17. September in glücklichem Heimgang zu ihrem himmlischen Bräutigam."
Vielen gebührt Dank. Der größte Dank gehört Papst Benedikt XVI. für seinen Mut, die hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin zu erheben. Vielleicht wird seine Einstellung zu ihr aus einem kleinen Grußwort gut erkennbar, das er 1994 an Tagungsteilnehmer eines Internationalen Hildegard Symposions gerichtet hat, zu dem er eingeladen war: „Gerne hätte ich die Einladung angenommen, zu Ihrer Tagung über Hildegard von Bingen zu kommen, zumal mich die Gestalt dieser Frau von Jugend an fasziniert hat. Mein Interesse war zu Beginn der vierziger Jahre durch den damals populären Roman von Hünermann ‚Das lebendige Licht‘ geweckt worden; dieser erste Zugang ermutigte mich später, der Quelle dieses Lichtes ein wenig mehr nachzugehen, auch wenn ich leider nie zu eigentlichen Hildegard-Studien die Zeit gefunden habe. Heute steht Hildegard in ihrer ganzen kühnen Universalität vor uns. Wir fühlen uns angesprochen durch ihre liebevolle Zuwendung zu den heilenden Kräften der Schöpfung wie durch ihre vielseitige künstlerische Begabung; vor allem aber durch ihre eindringliche Glaubensverkündigung; sie ist uns daher nahe als eine Frau, die Christus in seiner Kirche liebte, aber nichts von Weltfremdheit oder Ängstlichkeit zeigt, sondern gerade von ihrer Berührung mit dem Geheimnis Gottes her ihrer Zeit das rechte Wort furchtlos und frei zu sagen vermochte. In der Krise des Menschenbildes, die wir durchschreiten, hat Hildegard Wesentliches zu sagen. So wünsche ich Ihnen fruchtbare Gespräche, damit die Botschaft Hildegards in ihrer unverblassten Aktualität neu gehört und verstanden wird."
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen zu finden.