Die hl. Hildegard von Bingen, die von 1098 bis 1179 lebte, wird schon sehr früh nach ihrem Tod als heiligmäßig verehrt. Dies geschieht vor allem in den benediktinischen Klöstern und in den Dörfern und Städten des Umlandes.
Heute sind vor allem die Diözesen Limburg, Mainz und Trier Regionen der Hildegard-Verehrung. Im Bereich des Bistums Limburg ist ihr Grab in der Pfarrkirche Eibingen bei Rüdesheim, ganz in der Nähe des gleichnamigen Klosters. In der Diözese Trier gibt es zwei Gedenkstätten: der Disibodenberg als das Kloster, in das sie eintrat, und das Kloster Rupertsberg, das von ihr selbst gegründet wurde und im heutigen Bingerbrück zu finden wäre, aber von den Schweden im Dreißigjährigen Krieg völlig zerstört worden ist. In der Diözese Mainz finden wir in Bingen und seiner Umgebung immer wieder Hinweise auf ihr Leben und Wirken, wie der Ordensmann und Historiker Josef Krasenbrink in vielen kleinen Studien aufzeigen konnte.
Alle diese Stätten lagen vom 12. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im alten großen Erzbistum Mainz. Darum ist das Bistum Mainz auch heute noch in enger Verbindung mit der Heiligen, die nicht zufällig deswegen auch den Zusatz „Hildegard von Bingen" trägt. Da sie wohl in Bermersheim bei Alzey geboren wurde, haben wir in der Diözese auch heute noch den bemerkenswerten Ort ihrer Geburt.
Deswegen freuen wir uns von Herzen über die Erhebung der hl. Hildegard zur Kirchenlehrerin. Was ist damit gemeint? Die Kirche kennt bis Ende des 20. Jahrhunderts 30 Kirchenlehrer sehr unterschiedlicher Herkunft. Alles Männer. Sie zeichnen sich aus durch Zuverlässigkeit der Lehre, Heiligkeit ihres Lebens, eine große theologische Leistung und die Anerkennung durch den Papst. Man findet sie im Unterschied zu den Kirchenvätern, die in der antiken Welt beheimatet sind, in allen Jahrhunderten.
Es ist viel zu wenig bemerkt worden und aufgefallen, was es bedeutet, dass die Päpste Paul VI., Johannes Paul II. und nun Benedikt XVI. in den letzten 40 Jahren vier große Frauen zu Kirchenlehrerinnen erhoben haben: Katharina von Siena, Teresa von Avila, Theresia von Lisieux und nun Hildegard von Bingen. Sie sind alle auf ihre Weise in Italien, Spanien und Frankreich auch kulturell außerordentlich anerkannt. Die hl. Hildegard kommt als einzige aus dem mitteleuropäischen, deutschsprachigen Kulturraum. Sie haben alle höchste Bedeutung für die Erneuerung der Kirche.
Es ist nicht leicht, sich der Gestalt der hl. Hildegard zu nähern. Sie bezeichnet sich immer wieder als „einfältigen Menschen", als ungelehrt. In Wirklichkeit aber zählt sie nach unseren heutigen Maßstäben zu den großen Frauengestalten des ganzen Mittelalters: sie ist Ärztin, Komponistin, Verfasserin großer Werke über die Welt und den Menschen, kennt die Bibel und die Kirchenväter, kennt sich aber auch in den Naturwissenschaften und in der Medizin sowie im Ackerbau gut aus. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre „Visionen", die in ihren drei Hauptschriften zu finden sind. Sie findet heute auch außerhalb von Kirche und Theologie immer mehr höchste Anerkennung.
Wir bewundern diese „deutsche Prophetin", wie sie bald heißt. Aber sie bleibt uns immer auch fremd, sodass wir uns sehr um das Verständnis ihrer Gedanken mühen müssen. Es wird die Aufgabe der kommenden Zeit sein, sie auch als Kirchenlehrerin in ihrer Bedeutung für unsere Tage tiefer zu begreifen. Wir danken Papst Benedikt XVI. für dieses große Geschenk der Erhebung zur Kirchenlehrerin. Sie hat unserer Zeit, gerade wo sie uns fremd erscheint, noch viel zu sagen über die Heiligkeit des Lebens und die Tiefe des Glaubens.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz