Außen vor sein. Er hat etwas verpasst. Er war nicht da, als es passierte. Thomas hat die Erscheinung Jesu (Joh 20, 19 – 31) versäumt. Kein Weg führt daran vorbei. Ihm fehlt eine wesentliche Erfahrung. Er kann nicht mitreden. Ob Thomas aus eigener Schuld fehlte oder nicht, ist unerheblich. Er ist ausgeschlossen, weiß nicht wirklich, wovon die anderen reden.
Diese Erfahrung gibt es immer wieder: ich war nicht dabei, ich verstehe nicht, wovon die Rede ist, ich kann nicht dabei sein, wie jetzt in der Corona-Krise, wo Besuch im Krankenhaus und im Altenheim nicht möglich ist. Ich bin außen vor.
Die Erfahrung der Fremdheit, des Ausgeschlossenseins müssen Menschen auch sonst immer wieder machen: im Kreis der Menschen, manchmal in der eigenen Familie, aber auch umgekehrt, wenn es einem nicht möglich ist, wichtige Erfahrungen zu teilen, Wesentliches mitzuteilen. „Du warst nicht da“ als es mir so schlecht ging, als Mutter gestorben ist, als dies oder das passierte … Manchmal fehlen wir.
Doch wir können nicht immer da sein. Wir sind auf Verständnis angewiesen – und auf Zeugen, die uns vom Geschehen aus erster Hand berichten.
Wir wissen natürlich nicht, wie es Thomas ging, als ihm die anderen Jünger von der Begegnung mit dem Auferstandenen erzählten – und ob sie ehrlich genug waren zu sagen, dass sie sich selbst abgeschlossen hatten, dass sie eine geschlossene Gesellschaft waren aus Angst vor der Mehrheit. Ja, die Frage sei erlaubt: waren sie offen für Jesus?
Angefochtener Glaube braucht einen Schutzraum. Verletzte Liebe sucht Halt im vertrauten Kreis der Freunde und Freundinnen. Mir ist dieses Eingangsbild des Evangeliums wichtig, weil es mir zeigt, dass ich mit meinem Glauben nicht immer stark, wissend und bekennend sein muss. Mehr noch zeigt mir das Evangelium, dass Menschsein vor Gott nicht identisch ist mit Perfektsein, mit Erfolg haben, mit Unverletzbarkeit.
Darin sehe ich ein starkes Signal für das christliche Leben in einer Wissensgesellschaft, die so sehr auf die Leistung und die Entscheidung des Einzelnen baut nach dem Motto „Wer will, der kann!“ So heißt es heute: Der Patient (zu Deutsch „der Leidende“!) soll über sich selbst bis zum letzten Atemzug bestimmen können (Autonomie). Ich gestehe, dass ich das vielleicht gar nicht immer kann und es unter Umständen auch nicht will. Ich will mich anvertrauen können: den Menschen, die zu mir stehen und nach Kräften mit mir gehen und einer Medizin und Pflege, die das Gespür für die Bedürfnisse und Grenzen des einzelnen Menschen im Blick behält angesichts all der heutigen Möglichkeiten. Ja, und in der aktuellen Situation vertraue ich den Einschätzungen der Expertinnen und Experten der Medizin und den Entscheidungen der politischen Verantwortungsträger.
Als Christ ermutigt mich das Evangelium heute zum Rückzug aus überfordernden Situationen und zur Suche nach einem Schutzraum des Glaubens. Hier begegne ich Jesus Christus, dem verwundeten Heiland, der eben nicht perfekt, gesund und vollkommen ist, auch nicht in seiner Auferstehungsgestalt. Er wünscht den Seinen mitten in ihrer Abgeschlossenheit, in der sie auf Dauer nicht bleiben müssen, den Frieden und er zeigt sich ihnen mit seinen Wunden. „Durch seine Wunden sind wir geheilt,“ hieß es in der 1. Lesung der Karfreitagsliturgie aus dem Propheten Jesaja (53, 5). Ja, wir sind geheilt von unserem Ganzheitswahn, der unser Rennen und Streben auf diese kurze Erdenzeit beschränkt, in der uns angeblich die ganze Welt offensteht, über die wir nach Gutdünken verfügen können. Jesus holt uns in seinen Frieden hinein, der zu allererst Versöhnung ist: mit Gott, dessen Stelle häufig anderes oder gar ich selbst bei mir eingenommen habe; aber auch Versöhnung mit der eigenen Begrenztheit, Unausgesöhntheit, mit der Komplexität meiner Seele; ein Friede, der Versöhnung ist mit meiner Geschöpflichkeit und mit der Schöpfung, die ächzt und stöhnt unter ihrer Ausbeutung aufgrund der häufigen Ichbezogenheit der Menschen.
Jesus kommt gerade nicht zur Bestärkung des Zweifels und zur Bestätigung bohrender Fragen. Selbstverliebte Skepsis um der Skepsis willen, die eigentlich kaschierte Besserwisserei ist, wird hier nicht heiliggesprochen. Jesus kommt vielmehr der Not des Glaubens all jener zu Hilfe, die „nicht sehen und doch glauben“ wollen, was Thomas bekennt: „Mein Herr und mein Gott!“ Im Kern ist Glaube immer persönlich. Er ist die Schicksalsgemeinschaft mit dem, der mich durch und durch kennt und der einlädt, dass ich mit ihm in Berührung bleibe.
Thomas verdanken wir das umwerfende Zeugnis der persönlichen Begegnung mit dem verwundeten auferstandenen Jesus Christus, mit dem berührbaren Gott. Zu ihm kommt Jesus, so wie er immer da war für die Ausgeschlossenen, für die zu kurz Gekommenen, für die Nachzügler, für die Skeptiker und Suchenden.
Im letzten werfen wir uns als einzelne Menschen auf Gott. Letztlich ist der Weg des Glaubens höchstpersönlich. Diesen Weg kann einem keiner abnehmen. Nicht die besten Freunde und auch keine Kirche. Das spürt Thomas mit seinem Wunsch nach der Nähe Jesu.
So musste auch Jesus sich seinem Gott allein stellen. Gott, der ihm im Sterben zur Frage wurde, hat ihn nicht verlassen. Er hat ihn aus dem Tod, der bislang die absolute Einsamkeit und Gottferne bedeutete, herausgeholt in das neue un-glaubliche und un-fassbare Leben. Das macht er dem Thomas im wahrsten Wortsinn begreif-lich. Dank dir, Thomas, für deine Direktheit, für deine Unnachgiebigkeit, für dein Vorbild, dass wir uns Gott zumuten dürfen!
Auch heute tritt der Auferstandene in die Mitte unserer Person. Wir nennen dies auch die Seele. Ich bin davon überzeugt, dass Jesus Christus in diesen inneren Raum meines Lebens eintritt und als Lebendiger spürbar ist. Das erfahre ich nicht allein im Beten und Gottesdienst feiern, sondern auch in Begegnungen, Gesprächen und in manchem überraschenden Moment des Alltags. Sicheres Zeichen dieser Gegenwart Jesu ist mir der Friede und die Einheit, die er in mir schafft. Ich wünsche mir und uns immer wieder diese Erfahrungen mit dem Auferstandenen.