Impuls: „Auf einmal ist alles anders!“

Klinikseelsorger Norbert Nichell schreibt für uns:

matheus-ferrero-yfmjALh1S6s-unsplash (c) matheus-ferrero-unsplash
matheus-ferrero-yfmjALh1S6s-unsplash
Datum:
Mi. 18. März 2020
Von:
Norbert Nichell, kath. Klinikseelsorger an der Universitätsmedizin Mainz

Eine Erfahrung, die in diesen Tagen des sich unaufhaltsam ausbreitenden Coronavirus unser Lebensgefühl bestimmt und uns Veränderungen zumutet, wie wir sie vermutlich niemals für möglich gehalten hätten …

Als Seelsorgende in der Klinik kennen wir solche Szenarien in der Begleitung von Patient*innen und Familien: mit dem Zeitpunkt der Übermittlung einer Diagnose hat sich die eigene Situation und Welt schlagartig und grundlegend verändert. Gerade „war die Welt noch in Ordnung“, jetzt „ist nichts mehr, wie es vorher war“!

Eltern in der Kinderklinik sagen mir: „Ich glaube, ich bin im falschen Film!“ „Es ist so irreal, so, als lebte ich unter einer (Käse-)Glocke – und ich warte, bis endlich jemand diese Glocke wegnimmt!“ „Das, was mich bisher zu tragen schien, taugt jetzt nicht mehr!“ „Jetzt müsste einer mal den Schalter umlegen – und dann wäre wieder alles so wie vorher!“ 

Erfahrungen, die von Ohnmacht und Hilflosigkeit gefüllt sind, die ausdrücken, was wir auch in diesen Tagen erleben: es hat sich etwas grundlegend verändert, im Kleinen und im Großen, und zum ersten Mal in dieser Dimension weltweit – und wir wissen noch nicht, wohin uns die veränderte Situation führen wird. Am liebsten würde ich die Reset-Taste drücken und alles wäre auf „Neu-Start“ eingestellt. 

Die Situation angesichts der Diagnosestellung wie auch hinsichtlich des Virus fordert mich heraus, führt mich an meine Grenzen, an die Grenzen der Belastbarkeit meiner Systeme, in denen ich lebe, bisher sehr gut leben konnte. Diese Systeme geraten gerade ins Wanken. Ob sie dem gewachsen sein werden, was auf uns zukommt?

Was bleibt jetzt für mich übrig? Gewohnt, Dinge und Ereignisse zumindest mitgestalten zu können, werde ich mich auf diese neue Situation einlassen müssen: „Ich habe keinen Einfluss, ich habe es nicht (mehr) in der Hand, was passiert! Es geschieht – und ich kann mich nur im Rahmen meiner Möglichkeiten verhalten, nur versuchen, mitzugehen ...“

 „Du wirst mit dieser Ungewissheit leben müssen“, sagt mir meine innere Stimme. „Kann ich vertrauen? Glaube ich, dass ich – auch und gerade – jetzt getragen bin von einer größeren Kraft, die um meine Situation weiß, während mich die Kapriolen des Lebens durchgeschüttelt haben, wenn ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht, weil ich nicht fassen kann, was mir geschieht, wenn ich den festen Boden unter den Füßen zu verlieren drohe, weil ich nicht weiß, wie es weiter gehen kann und ob es weiter gehen wird?“ Wer oder was bleibt dann noch?

Dann steigen in mir die so oft gesungenen Worte des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers, Dietrich Bonhoeffer auf: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag“ – und sie bewirken ein wenig Gelassenheit für den Augenblick.