„Bitte Abstand halten!“ Diese Aufforderung ist uns inzwischen wohl in Fleisch und Blut übergegangen. Mit Bedacht gehen wir miteinander um, halten Abstand. Da mögen zwar manche sagen, wir Deutschen seien ein gehorsames und braves Volk. Doch die meisten spüren wohl, dass die Warnungen von Medizin und Politik wirklich ernstzunehmen sind und dass sie nichts mit Gängelei oder gar Abschaffung der Demokratie zu tun haben.
Aus der Perspektive des Glaubens halte ich weiterhin die Aufforderung aus dem 1. Petrusbrief für relevant, dass wir „besonnen, gerecht und fromm“ in dieser Welt leben sollen. Zur Besonnenheit gehört es, sich informiert immer wieder selbst ein Urteil zu bilden, was zu tun ist. Auch die Coronazeit ist Lebenszeit. Die Unterbrechung zeigt uns, was und wer uns im Leben wichtig ist. Es ist gut, dies einander bewusst zu zeigen – auch auf Abstand. Gerecht zu leben, das heißt jedem das Seine zukommen zu lassen. Das Horten ist wohl zumindest erst einmal vorbei. Viel wichtiger ist es aber, nicht allein von den Heldinnen und Helden in Medizin und Pflege, an den Kassen der Supermärkte und auf den Straßen zu reden, sondern dieser Rede nachhaltige, auch finanzielle, Anerkennung folgen zu lassen. Gerechtigkeit äußert sich im Respekt, gerade gegenüber denen, die in Politik und Gesellschaft ihr Bestes geben. Respekt ist ein Ausdruck von Vertrauen in Menschen und in Systeme. Wir könnten es auch Systemvertrauen nennen. Fromm zu leben, das heißt sich Gott verdanken. Denn wir spüren, dass unsere Gesundheit nicht selbstverständlich ist. Trotz besten Wissens und Bemühens können wir uns nicht vor allem schützen. Als Klinikseelsorger bete ich mit vielen Menschen um Kraft von Gott, schwere Krankheiten durchzustehen und manche unlösbare Frage auszuhalten. Ich erfahre täglich, dass der Glaube stärkt und Gelassenheit vermitteln kann.
„Bitte Abstand halten!“ Viele Menschen halten von Gott und Kirche Abstand. Nicht erst seit Corona. Dafür gibt es viele Gründe: man hat ja Wichtigeres zu tun als in die Kirche zu rennen, als für die eigene Seele zu sorgen. Wo findet die Seele Halt und Orientierung? Tatsächlich kann man auch ohne Glaube und Kirche ein glückliches Leben führen. Und die Kirche macht es einem zu ja auch nicht immer leicht. Viele sagen, ich glaube auch so an Gott. Wie auch immer. Faktisch vermissen die meisten ihn nicht. Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass Corona daran etwas ändert und dass die Menschen wieder verstärkt zur Kirche kommen. Vielmehr scheint es mir so, dass diese Krise den Bedeutungsverlust des Glaubens und der Kirche beschleunigt. Schön, wenn sich diese Einschätzung nicht bestätigt.
„Bitte Abstand halten!“ Als Christinnen und Christen sind wir mit den Worten der Lesung aus dem 1. Petrusbrief (3,15–18) aufgefordert „Rechenschaft zu geben von der Hoffnung, die euch erfüllt“. Von Gott müssen wir keinen Abstand halten. Er ist immer da, näher als wir uns selber sind. Doch der Gott, an den ich glaube, zwingt sich niemandem auf. Er lockt und lädt ein im Vertrauen auf ihn durch das Leben zu gehen. Denn er kennt dieses Leben mit all seinen Widersprüchen, Vorbehalten und Ängsten, mit all seinen Momenten von Glück, Liebe und Lust in seinem Sohn Jesus Christus. Als barmherzigen und liebevollen Vater hat Jesus ihn uns gezeigt. „Bitte Abstand halten!“ Auf Abstand lernen wir Gott nicht kennen. Auf Abstand bleibt der Glaube fremd. Christlicher Glaube bekommt erst dann Bedeutung, wenn wir aus ihm leben. Wenn wir es Gott erlauben unser Leben zu formen. Ja, christlicher Glaube ist eine Lebensform nicht nur ein Bekenntnis. Es ist die Erfahrung, dass Gott uns beisteht, was auch geschieht. Gebe Gott, dass wir ihm dies erlauben. Amen.