Wann ist Corona endlich vorbei? Und wie sieht die Welt danach aus? Das sind zwei Fragen, die sich derzeit viele Menschen stellen.
Wer möchte nicht zur sogenannten Normalität zurückkehren? Wer möchte nicht schlicht und ergreifend hinter 2020 einen Haken machen? Nachvollziehbare Wünsche. Nur: werden wir mit dem Abhaken, dem lieber Vergessen, werden wir damit unseren Erfahrungen, werden wir den tiefen Einschnitten, die dieses zurückliegende Jahr für jede und jeden gebracht hat, gerecht? Manchmal wäre vergessen und neu anfangen eine Gnade. Doch wer tiefgreifende Erfahrungen gemacht hat, nicht allein mit Corona, wer vermisst, wer Abschied und Trauer erfahren hat, weiß nur zu gut, dass dies ein mühsamer Weg ist. Vielmehr gilt es mit dem Erlebten und Durchlittenen – wie auch mit dem neu Geschenkten – zu leben.
Einige Erfahrungen aus dem Jahr 2020 möchte ich nicht vergessen. Dass Gesundheit und das Leben überhaupt nicht selbstverständlich sind, dass Hilfsbereitschaft, Respekt voreinander und Solidarität mit den Schwächeren und Verletzlichsten – auch global – bleibend Ausdruck und Praxis der Humanität sein müssen, dass alt und jung, dass gesund und krank, dass reich und arm nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, all dies möchte ich, möchten wir bitte nicht vergessen.
Mich hat im Evangelium am Neujahrstag, dem Oktavtag von Weihnachten, eine Bemerkung besonders angesprochen, die so menschlich ist und die vor allzu schnellem Vergessen schützt. Da heißt es „Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen.“ Es geht um beides, um das sorgsame Bewahren und um die Bewegung und das Erwägen im Herzen.
Es geht um das Bewahren wichtiger Erfahrungen, besonders wenn durch sie das Leben eine unerwartete Wendung genommen hat. Könnte es sein, dass Gott zu uns gerade in den besonderen Momenten spricht? Zwei tiefgreifende Erfahrungen sind es insbesondere, die unser Herz bewegen: Liebe und Leiden. Unser Herz schreit nach Liebe. Leiden zerreißt unser Herz. Diese Erfahrungen im Herzen zu bewegen, wie es im Evangelium heißt, das ist etwas anderes als krampfhaftes Festhalten. Es ist die Bereitschaft durch sie hindurchzudringen, zur tieferen Wirklichkeit, dass wir in Gottes Liebe und Leidenschaft aufgehoben sind, dazu sind wir immer wieder neu eingeladen. „Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen.“
Das Herz, das ist die Mitte der Person. Hier sind das Erkennen und die Weisheit, das Wollen und das Tun, aber natürlich auch das Fühlen verankert. Darum wird im Glaubensbekenntnis Israels nach dem Bekenntnis zur Einheit Gottes dazu aufgefordert Gott zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Kraft (Dtn 6,5). Etwas im Herzen erwägen heißt also das ganze Leben mit dem Gott in Berührung bringen, der es sowieso kennt, und von daher als Mensch Sinn und Halt zu finden.
Wer ist dieser Gott? Wie ist er zu verstehen? Gott ist verborgene Ganzheit, „hidden wholeness“, wie der amerikanische Mönch und Schriftsteller Thomas Merton sagt. Mich fasziniert dieses Wort. Es drückt Grunderfahrungen des Glaubens aus: die Entzogenheit Gottes und zugleich das Verlangen und die Suche nach dem Ganzen, nach umfassender Geborgenheit. Ein anderes Wort hierfür lautet Geheimnis, etwas, das sich nie vollständig erschließt und das eben auch entzogen bleiben darf.
Wusste Maria, was aus diesem Kind, das sie in solch prekärer Situation geboren hat, werden wird? Wusste sie, wissen Eltern überhaupt, was in ihren Kindern steckt, was aus ihnen werden wird? Natürlich nicht. Jeder Mensch ist verborgene Ganzheit, weil alles Leben Teil der größeren Wirklichkeit und Wahrheit Gottes ist. Die Möglichkeiten, die Gott in uns angelegt hat, immer neu zu entdecken und zur Entfaltung zu bringen, also mit seiner Hilfe immer mehr bei uns selbst anzukommen, dazu helfe uns Gott.
Wenn wir uns in diesem Bewusstsein auf den Weg ins neue Jahr machen, dann brauchen keine Angst zu haben. In den Erfahrungen eigener Begrenztheit und in der Skepsis angesichts ungewisser Zukunft vertrauen wir der größeren Wirklichkeit Gottes. Wir vertrauen darauf, dass die vor uns liegende Tage, Wochen und Monate nicht allein unserer eigenen Planung unterliegen, sondern dass darauf Gottes Segen liegt. In Gottes Namen beginnen wir auch dieses Jahr 2021.