Wach-werden und Aufstehen: auf dem Weg zu Pfingsten

Datum:
Mi. 20. Mai 2020
Von:
Norbert Nichell, Klinikseelsorger an der Unimedizin Mainz

Haben Sie sich vielleicht in den vergangenen Wochen auch schon einmal gefragt, was wir wohl tun werden, wenn es nur eine Erde gibt und sie gegen uns ist oder – wie es die gegenwärtige Krise zeigt – sich zumindest gegen uns wehrt? Der Schrei des zutiefst ausgebeuteten und verwundeten Planeten ist seit über zwei Jahrzehnten zu hören, aber wir haben gedacht, dass „es immer irgendwie weitergeht und vielleicht doch alles nicht so schlimm kommen wird …“

„Als Moderne fanden wir uns bisher einer scheinbar gleichgültigen Welt gegenüber, aber im Zeitalter des Anthropozäns („Zeitalter des Menschen“), in dem wir uns nun befinden, scheint die Welt, die Natur ein empfindsames Gegenüber zu werden, sie agiert, wehrt sich gegen ihre Zerstörung, geht kaputt, schlägt zurück (etwa in Naturkatastrophen, in der globalen Erwärmung, im Artensterben oder eben mit nicht leicht beherrschbaren Viren)“, so beschreibt Dr. Anna Maria Riedl vom Institut für Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Uni Luzern die aktuelle Situation. Uns bedroht „… die Hochstapelei hinsichtlich unserer unzulänglichen Vorbereitungen für die kommende Zivilisation“, nennt es der französische Soziologe Bruno Latour in seinem 2014 auf Deutsch erschienenen Buch „Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne“ (653). Deshalb wirbt er für eine neue Sozialtheorie: die Akteur-Netzwerk-Theorie, die nicht ordnend von oben auf die Welt blickt, sondern sich hineinbegibt, die den Dingen bis in ihre Verästelungen folgt und die den großen optimistischen Fortschritts- und Erklärungsmodellen der Moderne ebenso misstraut wie der eben nur scheinbar neutralen Beobachterrolle. Stattdessen gilt es, die Netzwerke und Verknüpfungen nachzuzeichnen, in denen sich Natur, Technik und das Soziale gegenseitig beeinflussen.

Die Bedeutung der Religion liegt – nach Latour – nicht darin, dass sie an etwas glaubt, sondern indem sie etwas Besseres macht: „Sie bekehrt, sie rettet, sie transportiert Transformationen, sie erweckt Personen wieder zum Leben“ (ebd. 440). Er vergleicht es mit der Liebe: Worte der Liebe vermitteln eine Beziehung, sie geben dem, an den sie gerichtet sind, „Existenz und Einheit“ (ebd. 418). Wir alle kennen diese Erfahrung, dass Worte der Liebe  den verwandeln, den sie treffen, Nähen stiften, (zu neuem Leben) erwecken und (er)retten. In der Erfahrung der Unverfügbarkeit und darin, auf andere bezogen zu sein, von anderen ergriffen und verwandelt zu werden, liegt die Gemeinsamkeit mit der Religion: „Das, wovon die Erfahrung die stets wiederaufzunehmende Sicherheit gibt, dass wir diese Gewissheit, zu existieren und nahe zu sein, vereint und vollständig zu sein, nicht aus uns selbst ziehen, sondern dass sie von woanders her kommt, dass man sie empfängt, dass sie eine stets unverdiente Gabe ist, die durch den engen Kanal dieser heilsamen Worte zirkuliert. Sehr besondere Worte: Worte, die Träger von Wesen sind, die fähig sind, diejenigen zu erneuern, an die sie gerichtet sind“ (418f.).

„Eine unvergessliche Erinnerung“ nannte eine Patientin unsere kleine Singezeit auf Station während der Coronakrise, die ihr – wie den beiden anderen teilnehmenden Patienten – sichtlich nahe gegangen ist: Sich-berühren-lassen durch die Musik und die liebevollen Worte, die als „Boten“ bei ihr angekommen sind und etwas verändert haben.

Lassen wir uns auf dem Weg zu Pfingsten von einem neuen Blick auf unsere Welt aufwecken und berühren, wie es  dieses „Hustavle"  (norwegisches Wort für „Haustafel" oder auch „Hausordnung", das für die 12. Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen in Trondheim im Sommer 2003 entstanden ist) eindringlich beschreibt:

 

Der Schrei eines verwundeten Planeten

 

Töchter und Söhne der Erde,

die ihr wisst, was gut und böse ist:

Das Leben ist in Gefahr! Kümmert euch darum!

 

ENTDECKT DIE GANZHEIT

Die Erde ist ein Gewebe ohne Nähte.

Niemand hat das Recht, es in Stücke zu reißen.

 

SPÜRT DIE HEILIGKEIT

Ein heiliger Duft schwebt über allem, was ist.

Das Leben soll geschätzt, beschützt und geliebt werden.

 

ERFREUT EUCH AN DER SCHÖNHEIT

Der Schöpfung gehört ihr eigener Reichtum. Nichts ist nur Rohstoff.

Die Gaben der Erde sollen hingebungsvoll und dankbar behandelt werden.

 

ACHTET DEN ZUSAMMENHANG

Euer Leben ist verwoben mit dem Muster alles Lebens auf der Erde.

Alles, was ihr habt, ist euch zu treuen Händen gegeben.

Ihr sollt alles denen übergeben, die nach euch kommen.

 

KÄMPFT FÜR GERECHTIGKEIT

Mutter Erde hat genug, um die Bedürfnisse aller zu erfüllen, aber nicht, um ihre Habgier zu befriedigen.

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist Missachtung der Menschenwürde.

 

LEBT VERSÖHNUNG

Söhne und Töchter der Erde,

die ihr die Macht habt, ihr Gewebe zu zerstören:

Ihr seid berufen zu einem Leben der Versöhnung.

 

(In: European Christian Environmental Network (ECEN), Umweltmanagement in den Kirchen Europas / Auf dem Weg der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung 2006/2007)