Schmuckband Kreuzgang

11. Sonntag im Jahreskreis

11. Sonntag im Jahreskreis (c) Martina Bauer
11. Sonntag im Jahreskreis
Datum:
So. 13. Juni 2021
Von:
Martina Bauer

Aufmerksam für Neuaufbrüche

Youtube

  1. Sonntag, LJ B zu: Ez 17, 22-24

(BH und Dom, 10:00)                                                                                                                   

 

Aufmerksam für Neuaufbrüche

 

  1. In den letzten Jahren sind hier in Rheinhessen in vielen Orten eindrucksvolle Weinlehrpfade angelegt worden. Da kann man eine Reihe von Informationen über den jeweiligen Weinberg und die Lage, über die unterschiedlichen Rebsorten und vieles mehr erfahren. Mich beeindruckt dabei mit am meisten, dass viele Weinberge 20; manchmal 30 Jahre alt sind: alte, knorrige Weinstöcke, die trotzdem Jahr für Jahr wieder frische Reben austreiben. Und doch: irgendwann kommt dann immer der Zeitpunkt, dass ein alter Weinberg ausgehauen werden muss und mit jungen Reben neu angelegt wird. Ich weiß nicht, wie es einem Winzer geht, wenn er nach 20-30 Jahren, praktisch nach einer ganzen Generation, einen Weinberg ausmacht. Mir tut das immer weh, wenn ich das sehe. Und doch ist es der natürliche Lauf der Dinge: Irgendwann ist der Weinstock alt und am Ende und es müssen neue, junge Weinstöcke gesetzt werden.
  2. Von einem ganz ähnlichen Vorgang erzählt der Prophet Ezechiel in der Lesung des Alten Testamentes: Gott bricht aus der alten, knorrigen Zeder, von ganz oben aus dem Wipfel des Baumes, einen grünen, jungen Spross aus und pflanzt ihn an neuer Stelle ein. Und aus dem jungen Spross wächst ein neuer, kräftiger Baum heran. Das ist der Lauf der Welt: irgendwann braucht es den Generationenwechsel, irgendwann hat das Alte ausgedient und es braucht einen neuen Anfang.
  3. So selbstverständlich das ist und so natürlich das alles klingt: ich erlebe oft, wie unendlich schwer das sein kann. Wie viele Menschen leiden unter dem Gefühl, wenn sie alt geworden sind plötzlich scheinbar nicht mehr gebraucht zu werden, wenn die Verantwortung auf die nächste Generation übergeht. Wie schwer ist es, zuzulassen, dass die jungen Leute mit anderen, neuen Ideen an die Sache herangehen, dass plötzlich das, was man über Jahrzehnte aufgebaut hat, scheinbar nicht mehr wertgeschätzt wird und die Jungen ganz andere Wege gehen. Und wie schwer fällt es manchen Menschen, loszulassen, den Jungen Platz zu machen, Verantwortung auch wirklich abzugeben. Da spielen sich manchmal wirklich menschliche Tragödien ab. Und dabei, das legt das Gleichnis des Propheten Ezechiel wenigstens nahe, ist es doch die selbstverständlichste Sache der Welt und von Gott selbst so gewollt: irgendwann hat die alte Zeder ausgedient und der ausgebrochene Zweig wird in neuen Boden eingepflanzt, um zu einem Baum heranzuwachsen.
  4. Für mich sind an dem Gleichnis zwei Punkte besonders bemerkenswert: Zu allererst: anders als der Winzer, der irgendwann den alten Wingert komplett aushaut um Platz für eine Neupflanzung zu schaffen, haut Gott die alte Zeder nicht um! Die ausgehauenen Wingertsknorzen taugen im Grunde nur noch für den Kamin. Die alte Zeder aber wird von Gott nicht einfach umgehauen. Er lässt sie stehen! Fast liebevoll bricht er aus der obersten Spitze der Zeder einen kleinen Zweig aus, aus dem er den neuen Baum zieht. Der neue Baum wächst und erblüht neben dem alten, stattlichen Baum. Ja mehr noch: aus dem alten Baum, aus dem, was über Generationen gewachsen ist, sich bewährt hat, wird ein neuer Anfang gesetzt.
  5. Und ein zweiter Punkt: Der Prophet Ezechiel erzählt dieses Gleichnis in der Zeit des Babylonischen Exils. Das Volk Israel hat die bittere Erfahrung gemacht, wie im Jahr 587 Jerusalem zerstört wurde, die Mauern geschleift, der Tempel zerstört, und die Menschen wurden aus ihrer Heimat gerissen und in die Gefangenschaft nach Babylon geführt. Dort haben sie nach mehr als einer Generation neue Wurzeln geschlagen, sich wieder eingerichtet, ein neues Leben in der Fremde aufgebaut. Und der Prophet soll dem Volk nun die Verheißung der Heimkehr nahe bringen. Aber: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, sagt das Sprichwort. Für viele Menschen war die Verheißung der Heimkehr in dieser Situation sicher keine befreiende, sondern eine beängstigende Botschaft: Jetzt, nachdem sie sich nach vielen Mühen endlich ein neues Lebens aufgebaut hatten, jetzt sollen sie schon wieder alles zurücklassen um in eine unbekannte Zukunft aufzubrechen? Nein, sagt der Prophet: die alte Zeder wird nicht verpflanzt. Und doch: Gott wird einen Zweig aus ihrer Krone ausbrechen und in der alten Heimat, auf den Bergen Israels neu einpflanzen. Er wird einen neuen Anfang ermöglichen, ohne das Alte, Gewachsene einfach zu zerstören. Das verlangt Vertrauen in Gottes Weitsicht, Vertrauen, dass Gott weiß, was er tut und es gut meint mit uns. Und um dieses Vertrauen wirbt der Prophet.
  6. Wir erleben heute vielleicht deutlicher denn je, dass die Kirche in unserem Land im Umbruch ist. Viele alte Strukturen tragen so nicht mehr. Es ist längst nicht mehr selbstverständlich, dass wir ein christliches Land sind. Der Glaube wird nicht mehr selbstverständlich von einer Generation an die andere weitergegeben. Und die Skandale, die schleppende Missbrauchsaufarbeitung, all das macht es ja nicht besser. Manche, vor allem Ältere, trauern den guten alten Zeiten nach, erinnern sich noch, wie schön das alles früher war und wünschen sich, dass alles wieder so wird wie damals, als die Kirchen noch voll waren, als die Kirche noch so selbstverständlich zum Leben dazu gehört hat, als man sich nicht dafür rechtfertigen musste, ein Christ zu sein.
  7. Gleichzeitig ist uns allen klar: wir müssen neue Wege gehen. Es geht nicht mehr einfach so weiter, wie es immer war. Nach all den Skandalen braucht es einen radikalen Neuanfang. Aber: Neuanfang - und das sagt mir dieses eindrucksvolle Gleichnis von der Zeder - kann und darf nicht heißen, alles Alte und Gewachsene, die ganzen bewährten Traditionen, brutal abzuschneiden, auszuhauen und ganz neu anzufangen. Es geht darum, aus dem Altbewährten heraus neue Ansätze zu wagen, neue Aufbrüche zu setzen. Die alte Zeder darf den Neuanfang nicht behindern, sondern im Gegenteil: sie muss ihn ermöglichen: aus ihrem Wipfel wird der Zweig ausgebrochen, aus dem Neues wachsen kann. Und umgekehrt: der neue Baum ersetzt den alten nicht einfach. Beide wachsen nebeneinander. So braucht es auch in der Kirche einen gesunden Ausgleich zwischen dem Bewahren von guten Traditionen, die sich bewährt haben, und dem Mut, Neues, Ungewohntes, vielleicht auch eher Fremdes zuzulassen und wachsen zu lassen.
  8. Ich kann verstehen, wenn manchem ein Familiengottesdienst mit vielen Kindern zu zappelig ist; wenn es manchem fremd ist, wenn der gewohnte, vertraute Ablauf der Messe durch irgendwelche kindgerechten Aktionen durchbrochen wird. Aber ich kann auch umgekehrt verstehen, wenn junge Familien sagen: Die „normale“ klassische Liturgie, die passt nicht für uns und unsere Kinder und Familie und ist für uns wenig ansprechend. Wenn wir doch wissen, dass die jungen Familien die sind, die die Zukunft der Kirche und der Gemeinde darstellen, dann ist das schon eine ernsthafte Anfrage: Was tun wir, um diesen Menschen einen Zugang zur Kirche, zum Gottesdienst zu ermöglichen?
  9. Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, uns an Gott ein Beispiel zu nehmen: So wie der junge Trieb neben der alten Zeder wachsen darf, so müsste auch in unseren Gemeinden und in der Kirche ein Miteinander und ein gegenseitiges Verständnis wachsen zwischen den Bedürfnissen derer, die die alten Traditionen hochschätzen, und zwischen denen, die nach neuen Wegen und Zugängen suchen. Gott hat immer wieder einen Neuanfang möglich gemacht – und zwar ohne das Altbewährte brutal umzuhauen. Gottes Politik ist nicht die der verbrannten Erde, sondern die des Gärtners, der aus der alten Zeder den jungen Trieb zieht. Gott traut uns und unseren Gemeinden zu, dass auch hier Neues wachsen kann, Neuaufbrüche möglich sind. Aber er braucht uns gleichsam als den Boden, in den hinein er den neuen Trieb pflanzen kann. Amen.