Als vor wenigen Wochen der Münchner Kardinal Marx, bis letztes Jahr noch Vorsitzender der Bischofskonferenz, mit der Meldung an die Öffentlichkeit ging, er habe dem Papst seinen Rücktritt angeboten, war das ein Paukenschlag für die Kirche in Deutschland. Mehr aber noch seine Begründung: Die Kirche sei an einem toten Punkt angekommen, argumentierte der Kardinal. Auch wenn er in seinem Brief deutlich macht, dass er aus der österlichen Hoffnung lebt, dass der tote Punkt zum Wendepunkt werden könne, aus dem neue Hoffnung, neue Leben wächst: Das hat kaum noch einer mitgehört. In allen Medienberichten war nur noch vom toten Punkt die Rede. Die Kirche am Ende, in den letzten Zügen. Ja, der Brief klang insgesamt sehr resignativ. Und das aus dem Munde eines Bischofs, der für Reformen eingetreten war, hier in Deutschland, aber auch in Rom als einer der engsten Kardinalsberater des Papstes. Wenn so jemand nun davon spricht, dass wir am toten Punkt angekommen sind: sind dann alle Bemühungen, die Kirche von innen heraus zu erneuern, zu stärken, aufzurichten, gescheitert? Der Brief von Kardinal Marx war ein Schock, auch für mich.
Wahrscheinlich hat das auch der Papst so verstanden. Dass er den Rücktritt nicht angekommen hat, dass er überhaupt so überraschend schnell und klar geantwortet hat, war schon ein deutliches Zeichen: ein Rücktritt hätte gewirkt wie die Flinte ins Korn geschmissen. Und genau das brauchen wir im Moment nicht. Wir brauchen Mut, Veränderungen anzugehen, den Weg der Erneuerung weiterzugehen. So auch der Papst: „Das ist meine Antwort, lieber Bruder. Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising!“
Ist die Kirche am toten Punkt angekommen? Die Frage bleibt. Viele, die der Kirche längst den Rücken gekehrt haben, sehen das so. Aber eben auch viele innerhalb der Kirche. Dass sich wirklich etwas bewegen könnte, dass Kirche sich reformieren, verändern, gleichsam aus den Trümmern der Skandale, auf denen wir stehen, zu neuem Leben auferstehen könnte: Wer glaubt das noch ernsthaft? Kirche am toten Punkt! Oder wenn noch nicht ganz tot, so doch in den allerletzten Zügen liegend.
Es ist ein wenig so wie im heutigen Evangelium: die Tochter des Synagogenvorstehers Auch die liegt in den letzten Zügen, todkrank, sterbend. In seiner Verzweiflung kommt der Synagogenvorsteher zu Jesus und bittet ihn flehend um Hilfe. Jesus macht sich auf den Weg, es kommt zu Verzögerungen, es geht nicht voran, anderes ist wichtiger, eine arme kranke Frau hält Jesus auf. Als Jesus schließlich am Haus des Synagogenvorstehers ankommt, scheint es zu spät: „Was bemühst du den Meister noch? Deine Tochter ist am toten Punkt angekommen, ist gestorben, keine Hoffnung mehr!“ Jesus lässt sich nicht beeindrucken vom Gerede der Menschen: „Warum schreit und lamentiert ihr? Das Kind ist nicht gestorben!“ Sie lachen ihn aus. Es ist genau die Situation heute. Kirche am toten Punkt. Es hat keinen Sinn mehr. Es bewegt sich nichts. Der Synodale Weg gescheitert, es ändert sich ja doch nichts. Ein einziges Lamentieren und Klagen; und wer noch glaubt, dass sich etwas ändern kann, das ein neuer Anfang möglich ist, wird ausgelacht.
Die Geschichte im Evangelium nimmt eine überraschende Wendung. Jesus berührt das tote Mädchen, spricht es an und richtet es auf. Und das Mädchen steht auf und geht umher. Noch schwach zwar, aber es lebt! Solange Jesus da ist, ist auch ein toter Punkt kein Grund für Resignation und Verzweiflung. Solange Jesus da ist, kann selbst das, was schon tot scheint, wieder zum Leben erweckt werden. Das ist die starke Botschaft aus dem heutigen Evangelium. Und wenn wir als Christen an den Sieg des Lebens über den Tod glauben, können, gibt es keinen Grund zu Resignation. Unsere Stärke ist die Hoffnung! Und unsere Hoffnung hat einen Namen: Jesus Christus.
Mich beeindrucken am heutigen Evangelium vor allem die Details, und die sind wichtig. Zuerst: Jesus schickt die Klageweiber, die Lamentierer, die Pessimisten, die ihm im Weg stehen, weg. Und zwar nicht liebevoll; er bittet sie nicht ein wenig zurückzutreten oder leiser zu sein. Das Evangelium gebraucht hier ungewöhnlich deutlich Worte: „Er warf sie hinaus!“ In der Kirche haben Pessimisten und Lamentierer keinen Platz, denn unser Glaube ist ein österlicher Glaube, ein Glaube, der auf den Sieg des Lebens setzt. Und zwar radikal und kompromisslos. Wer nur jammert und klagt, wer Hoffnungslosigkeit predigt, der steht Jesus und seiner Botschaft vom Leben im Weg.
Das zweite: Jesus spricht das tote Mädchen direkt an. Er philosophiert nicht mit den Anwesenden, was man machen könnte; er spricht auch nicht wie irgendein Medizinmann irgendwelche Zauberformeln über das tote Mädchen, sondern er spricht es direkt an: „Talita kum! Mädchen, steh auf!“ Das gibt mir im Blick auf die Situation unsere Kirche am meisten zum Denken. Vielleicht ist es in der Tat der falsche Ansatz, dass wir uns erst hinsetzen und Strategien entwickeln, was wir ausprobieren, was wie verändern, wo wir an der Kirche, ihren Strukturen und so fort herumdoktern sollten. Dass wir diskutieren, was sich alles ändern müsste, was der Papst, die Bischöfe ändern sollten, wie sich Strukturen ändern sollten. Bei Jesus klingt es ganz einfach: er spricht die Tote selbst an: „Steh auf!“ Das Mädchen muss etwas ändern; muss aufhören, tot zu sein. Es muss selbst aufstehen. Vielleicht überhören wir vor lauter Streit, wohin der Weg in der Kirche gehen müsste, das Jesus uns längst anspricht: „Ecclesia kum! Kirche, steh auf!“ Und mit Kirche sind eben nicht der Papst, die Bischöfe, der Klerus gemeint, jedenfalls nicht allein und wahrscheinlich nicht einmal zuerst: sondern wir alle. Denn wir alle, alle Getauften: wir sind Kirche! Wir müssen uns von Jesus anrufen lassen, berühren lassen, damit wieder Leben in die tote Dame Kirche kommt.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: ich will damit jetzt nicht alle Reformdebatten, die Diskussionen im Synodalen Weg und so fort, einfach abbügeln. Im Gegenteil: all das ist elementar notwendig. Die Kirche muss sich ändern, auch in ihren Strukturen, erst Recht, wo sie Schuld auf sich geladen hat. Aber das erste, um überhaupt die Kraft zu wirklicher Veränderung zu finden, ist, dass wir uns von Jesus anrufen lassen: „Steh auf, Kirche!“, Dass wir uns von ihm neues Leben einhauchen lassen. Und dass wir uns gemeinsam, als Kirche, zutrauen, dass wir wieder zu neuem Leben aufstehen können. So tot kann kein Mensch, auch keine Kirche sein, dass Jesus ihr nicht neues Leben einhauchen könnte! Das ist für mich die stärkste Botschaft des heutigen Evangeliums.
Und ein letzter Gedanke: Jesus sieht, dass das Mädchen Hunger hat und fordert die Umstehenden auf, ihr zu essen zu geben. Vielleicht bedeutet das: Wir dürfen nicht erwarten, dass die Kirche wie der Phönix aus der Asche zu neuer Pracht und Ruhm aufsteht. Es bleibt ein mühsamer Weg. Das Mädchen ist schwach, hilfsbedürftig. Reformen werden nicht mit einem Schlag zu einer neuen glanzvollen Kirche führen. Es ist ein langer Weg; es braucht Stärkung, Hilfe, Unterstützung. Die Speise, die uns als Kirche gegeben wird, um wieder zu Kräften zu kommen, ist Christus selbst. Sein Wort, sein Sakrament: daraus leben wir. Das kann uns auf dem mühsamen Weg der Regeneration stärken, aufrichten.
Aber, noch einmal: das wichtigste ist, dass wir begreifen: Es gibt keinen toten Punkt, den Jesus nicht wenden kann. Und dass wir uns von ihm ansprechen lassen: Kirche, steh auf! Und dass wir begreifen, dass es nicht der Papst oder die Bischöfe sind, die etwas ändern, die gemeint sind, sondern wir: indem wir wie das Mädchen aufstehen, und, wenn auch geschwächt und mühsam, Schritte gehen. Im Vertrauen, dass Christus uns stärkt.