KARFREITAG, LJ B – 29.03.2024
(Dom)
Wo bist Du, Gott?
- Anfang September 1944 schreibt der in Lampertheim-Hüttenfeld aufgewachsene Jesuitenpater Alfred Delp in einem Brief aus dem Gestapo-Gefängnis in Berlin, wo er bereits über Monate in Isolationshaft inhaftiert war: „In einer Nacht, es war um den 15. August, bin ich beinahe verzweifelt. Ich wurde wüst verprügelt, in das Gefängnis zurückgebracht, abends spät. Die begleitenden SS-Männer lieferten mich ab mit den Worten: ‚So, schlafen können Sie heute Nacht nicht. Sie werden beten, aber es wird kein Herrgott kommen und kein Engel, um sie herauszuholen. Wir aber werden gut schlafen und morgen früh mit frischer Kraft wiederkommen, um sie weiter zu verprügeln.“ In dieser Nacht, so schreibt Delp, sei er fast verzweifelt. Wo ist da Gott? Und wo war er, als Pater Delp wenige Monate später am 2. Februar 1945 am Galgen in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde? Als man, um ihm auch die letzte Würde noch zu nehmen, seine Asche auf den Rieselfeldern von Berlin zerstreut hat?
- Noch heute verzweifeln viele Menschen an dieser Frage: Wo bist du, Gott? Immer wieder beten, Menschen in ihrer Not, schreien, flehen verzweifelt um Gottes Hilfe, und kein Herrgott und kein Engel kommt und reißt sie heraus. Die Menschen in der Ukraine, im Gazastreifen, wo fast kein Stein mehr auf dem andern liegt. Die Menschen in Israel, wo immer noch wahllos Raketen einschlagen n die Häuser der Menschen; die Menschen in den Hungergebieten Äthiopiens; die Menschen in dem Tanzpalast in Moskau, auf die Terroristen wahllos einschießen und die keinen Ausweg finden; Menschen, die unheilbar an Krebs oder anderen schlimmen Krankheiten erkrankt sind und ihre Angehörigen: wie viele von denen beten und machen doch die bittere Erfahrung, dass kein Gott kommt und kein Engel, um sie herauszuholen, keiner, der das Leid verhindert.
- Natürlich wissen wir, dass Gott nicht einfach verantwortlich ist für all das Elend und Leid. Wir können nicht Gott dafür verantwortlich machen, was Menschen alles einander antun. Gott hat doch den Krieg in Gaza nicht gewollt oder in der Ukraine. Gott will doch nicht, dass fanatische Menschen in barbarischen Terrorakten unschuldige Mitmenschen umbringen. Und Gott hat auch nicht den Raubbau an der Natur zu verantworten, der den Menschen die notwendigen Lebensgrundlagen entzieht und Hunger, Dürre, Klimaveränderungen, Überschwemmungen usw. zur Folge hat. Natürlich dürfen wir das nicht einfach Gott in die Schuhe schieben. Das haben wir Menschen zu verantworten, und wir können uns nicht einfach aus der Verantwortung stehlen, indem wir dann plötzlich nach Gott rufen, wenn wir in Not sind und keinen Ausweg mehr wissen.
- Und doch ist es eine bedrängende Frage: Lässt denn Gott unser Elend einfach kalt? Kümmert es ihn nicht, was wir Menschen aus seiner Welt machen, was wir vor allem auch einander antun? Und außerdem: Wie viel Elend und Leid gibt es, für das niemand direkt Schuld trägt? Wie viele schlimme persönliche Krisen und Schicksalsschläge, Krankheiten, unverschuldete Notlagen gibt es, wie viele Menschen machen die Erfahrung von Einsamkeit und Verlassen sein; von Depression, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt; wieviel Leid und Elend, in dem Menschen nach Gott rufen und verzweifeln, weil kein Herrgott und kein Engel kommt um ihnen zu helfen. Wo ist da Gott?
- Der Karfreitag gibt uns die Antwort auf diesen Ruf, diesen Schrei so vieler Menschen in Verzweiflung und Not: Wo bist du, Gott? Hier, hier am Kreuz, da ist Gott! Das Kreuz ist Gottes Antwort auf die Frage nach dem Leid. Gott gibt auf die Frage, warum es Leid und Elend gibt, keine, sachlich, nüchterne, akademische Antwort. Was hätten wir auch davon? Das würde uns nicht weiterhelfen. Gottes Antwort ist der Karfreitag, das Kreuz. Hier wird unübersehbar, dass Gott unser Leid nicht kalt und unberührt lässt. So sehr lässt er sich vom Leid der Menschen anrühren, dass er selbst Mensch wird und alles menschliche Leid am eigenen Leib zu spüren bekommt, bis hin in dieses verzweifelte Gefühl der äußersten Gottverlassenheit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ schreit Jesus am Kreuz. Gott hat Mitleid mit uns Menschen, er leidet mit uns – und zwar nicht abstrakt, distanziert, gewissermaßen von außen, sondern indem er Mensch wird und am eigenen Leib erfährt, was Leiden und Schmerz und Verlassenheit und Verzweiflung bedeutet.
- Nur: Was haben wir Menschen letztlich davon, dass es Gott auch nicht besser geht als uns, was haben wir davon, dass Gott in seinem Sohn so mit uns leidet? Was hilft uns sein Mitleid, selbst wenn es bis zum äußersten, bis zum Kreuz geht? Nichts. Wenn der Karfreitag das Ende wäre. Aber der Karfreitag ist nicht das Ende. Das Kreuz ist nicht Gottes letztes Wort, es ist nicht einfach nur das Zeichen und Symbol eines Gottes, der Mitleid mit uns hat. Es ist zugleich das Symbol eines Gottes, der eingreift, um uns zu retten. Denn das Kreuz ist für uns Christen nicht Zeichen des Todes und des Scheiterns, sondern es ist durch Ostern Zeichen eines Neuanfangs; es ist Zeichen der Hoffnung. Gott lässt seinen Sohn nicht in der Gottverlassenheit. Er lässt ihn nicht im Tod. Im Blick auf das Kreuz wird klar: Die SS-Schergen haben sich geirrt, gründlich geirrt. Denn der Gott, an den wir glauben, zu dem wir rufen, dieser Herrgott kommt und rettet seinen Sohn aus dem Tod! Und mit ihm schenkt er allen Menschen die Hoffnung, dass Gott kommt und uns beisteht. Nicht einfach, in dem er uns alle Schwierigkeiten und Probleme aus dem Weg räumt. Wer das erwartet, der muss vielleicht enttäuscht werden. Gott setzt viel tiefer an: er besiegt durch sein Mitleiden und sein Kreuz den Tod ein für alle Mal - und damit die letzte und äußerste Grenze. Und er schenkt uns damit eine Hoffnung, die niemand, kein SS-Mann, kein Folterknecht, kein noch so brutaler Diktator, keine noch so schlimme Krankheit, keine noch so bittere Verzweiflung besiegen kann. Die Hoffnung, dass das Leben letztlich siegt: im Zeichen des Kreuzes, vor dem wir heute unser Knie beugen.