Dass Worms die Lutherstadt ist, ist auch über die Stadtgrenzen hinaus allgemein bekannt. Dass Worms aber auch die Stadt eines anderen Martin ist, wissen oft nur Insider. Zwar kennt jedes Kind die Geschichte des Hl. Martin, der mit dem frierenden Bettler seinen Mantel geteilt hat, und der in diesen Tagen überall wieder überall mit Laternenumzügen geehrt wird. Dass dieser große Heilige der Nächstenliebe und des Teilens aber zu Lebzeiten hier in Worms war, das ist viel weniger bekannt. Nur zwei Städte in Deutschland können sich rühmen, dass sich der historische Martin tatsächlich mit einiger Sicherheit dort aufgehalten hat: nämlich Worms und Trier. Hier, in der „Stadt der Vangionen“, so erzählt schon die früheste Lebensbeschreibung des Heiligen, habe Martin im Jahr 356 vor dem Kaiser seinen Militärdienst quittiert und die Waffen niedergelegt, weil er fortan nur noch Christus als seinem einzigen Herrscher dienen könne. Der Überlieferung nach ist die Wormser Martinskirche über jenem Kerker errichtet, in den man den heiligen Martin daraufhin eingesperrt habe. Der hl. Martin ist insofern schon ein besonderes ‚Alleinstellungsmerkmal‘ für Worms. Wir sind mit der Martinskirche eine wichtige Station an der ‚Via Sancti Martini‘, dem Martinsweg, der von Ungarn bis nach Frankreich entlang der wichtigen Lebensstationen des Heiligen führt.
In der Wormser Martinskirche wird der Heilige Martin als Pfarrpatron besonders geehrt. Die Feier des Patroziniums begann am Samstag, 16.11.2019 um 17:00 Uhr mit einer Vesper, in der in diesem Jahr Dr. Thomas Ochs die Festpredigt übernahm. Dr. Ochs ist Direktor der Fachschule für Sozialpädagogik in Neckarsulm. Die Schule hat sich vor wenigen Jahren bewusst den Namen des Hl. Martin gegeben, auch, weil Neckarsulm wie Worms an den „Via S. Martini“ liegt.
Im Anschluss an den Vespergottesdienst versammelten sich vor der Kirche die Kinder zusammen mit der Gemeinde zur traditionellen Prozession mit Laternen und Lichtern durch die Straßen von Worms. Mitgetragen wurde dabei auch eine Reliquie des heiligen Martin: sie kam 1974 als Geschenk des Bischofs von Tours, wo sich das Grab des Heiligen befindet, nach Worms und wurde dort in einem vom Wormser Künstler Hans Michael Kissel geschaffenen modernen Reliquiar gefasst. Die Prozession wurde musikalisch begleitet von der Katholischen Kirchenmusik Pfeddersheim. Im Anschluss führte die Jugend vor der Kirche das traditionelle Martinsspiel auf, bevor am Martinsfeuer alle zur Begegnung bei einem Glas Wein eingeladen waren.
Ein weiterer Höhepunkt der Feierlichkeiten war am Sonntag um 10:30 Uhr das Festhochamt zum Patrozinium, das der Martinschor unter Leitung von Daniel Wolf begleitet und das als Familiengottesdienst gestaltet wurde. Im Rahmen dieses Gottesdienstes wurden auch die Erstkommunionkinder, die am weißen Sonntag 2020 zum ersten Mal zum Tisch des Herrn eingeladen sind, vorgestellt.
Im Anschluss lud der Förderverein St. Martin zum traditionellen Martinsgansessen in das Martinushaus ein.
Lesen Sie hier die Festpredigt der Vesper von Dr. Thomas Ochs:
Dr. Thomas Ochs, Katholische Fachschulen Sankt Martin Neckarsulm
Predigt zur Martinsvesper in der Kirche St. Martin in Worms am 16.11.2019
Mein eigener Zugang zu St. Martin ist wahrscheinlich der von vielen: Er ist eine Figur meiner Kindheit, nett und romantisch, aber auch nicht mehr. Es sind schöne Erinnerungen und ein freundlicher Eindruck geblieben.
Ich habe den Eindruck, dass es vielen heute so geht: Sankt Martin ist vor allem etwas für Kinder, ein netter Mann. Aber über die Mantelteilung hinaus ist bei vielen nichts weiter bekannt und auch nicht relevant. Dabei geht das Abenteuer seines Lebens für Martin nach der Mantelteilung erst richtig los.
Dazu kommt vielfach ein säkulares Sich-Loslösen von der eigentlichen Person und seiner Handlung: In vielen Kitas und Schulen darf aus Gründen der „Neutralität“ nicht mehr St. Martinsfest und St. Martinsumzug gesagt werden, sondern es muss Laternenfest und Laternenlauf genannt werden. Das St. Martinslied wird nicht mehr gesungen und aus den Laternenliedern wird jeglicher Bezug zu St. Martin gestrichen.
Das Schlimmste, was ich in diesem Jahr beim sogenannten Laternenlauf einer Kita erlebt habe: Die ganze Gruppe versammelte sich (am 11. November!) um einen Halloween Kürbis und streckte ihm die Laternen entgegen.
Und es war ausgerechnet ein muslimischer Vater, der den Mut gehabt und zurecht empört den Organisatoren zugerufen hat: Halloween ist schon längst vorbei, wir feiern heute Sankt Martin! Bei alldem war bei den Organisatoren kein böser Wille, sondern Unsicherheit, Unwissenheit und bewusste „Neutralität“.
Martin hat mich in den letzten Jahren „eingeholt“. Er ist für mich der menschenfreundliche Mann aus der Kindheit geblieben, hat sich aber erheblich weiterentwickelt: Unsere Neckarsulmer Schule für Erzieher/innen und Heilpädagogen/-pädagoginnen Schule hat lange einen passenden Namen gesucht. Eine muslimische Schülerin berichtete um das St. Martinsfest herum aus ihrem Praktikum: Immer wird gesagt, aus Rücksicht auf uns Muslime darf man nicht mehr St. Martinsfest und St. Martinsumzug sagen… Dabei ist er für uns genauso ein Vorbild für Teilen und Nächstenliebe.
Daraus entwickelte sich eine Diskussion bei der Schülerschaft: Alle, Christen, Muslime, Nichtgläubige… können bei dem Vorbild des Teilens gut mit. Hier ist Martin das verbindende Vorbild. Bei der anschließenden Christusbegegnung Martins, der Taufe und dem Bischofwerden können die nichtchristlichen Schüler nicht mehr so mit nicht mehr mit, aber das muss auch nicht sein…
So wurden wir eine St. Martinsschule, es entwickelten sich mit den Schülern zusammen 2 Martinspilgerwege und ein immer tieferes Kennenlernen von Martin und seinen Impulsen für heute. Martin und das Sankt Martinsfest sind offen für alle Menschen, Nationen und Religionen. Aber sie sind kein Neutrum, das man von seiner christlichen Wurzel einfach abkappen und aus denen man einfach ein neutrales, säkulares Laternenfest machen kann.
Im Lauf der Zeit hat sich durch diese Dynamik mein Martinsbild aus der Kindheit stark weiterentwickelt
Neue Erkenntnisse und Konsequenzen ergaben sich für mich:
So ist er ein Vorbild für heute, bei all den populistischen Strömungen, die vielerorts wieder aus der Versenkung auftauchen: Von Martin können wir lernen, einfach zu helfen, wo es notwendig ist. Wie der barmherzige Samariter im Gleichnis von Jesus. Einen Christen erkennt man an der praktizierten und mutigen Nächstenliebe – egal was die anderen denken und sagen.
Und er sagt ihm, dass er, Jesus, der Bettler war und dass Martin ihm diese gute Tat getan habe. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder Schwestern tut, heißt es im Matthäusevangelium, das tut ihr mir“. Mit dieser menschenfreundlichen Tat macht Martin also einen gewaltigen Sprung in seiner Lebensgeschichte. Martin war zu dieser Zeit noch nicht getauft, er war Taufbewerber. Was lange in ihm geschlummert hat, die Sehnsucht, Christ zu werden und Jesus nachzufolgen, bricht jetzt, durch diese Tat der Nächstenliebe durch: Er hat den Mut, seinen Weg zu gehen (auch gegen den Willen des Vaters). Er wird Christ, bricht mit dem MiIitär, zu dem er von seinem Vater gezwungen wurde und ist bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Hier in Worms heißt das ganz konkret: Kerkerhaft aufgrund seines Glaubens.
- Seinen eigenen Weg gehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist und bereit sein, dafür auch widrige Umstände in Kauf zu nehmen, dafür steht St. Martin. Sein christlicher Glaube bestimmt nun sein ganzes Leben und macht ihn zu einem großen Gottes- und Menschenfreund. Martin erfüllt das christliche Hauptgebot: Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit ganzer Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst.
Er will sich zurückziehen, vielleicht seinen reinen Glauben leben. „Das Heil der eigenen Seele suchen“ nannte man es damals. „Rette deine Seele“, hieß es oft als Slogan bei Volksmissionen im vergangenen Jahrhundert, was ja im Grunde auch gar nichts Schlechtes ist. Bei Martin waren es lautere Absichten, wie es dem damaligen asketischen Ideal entsprochen hat
Wenn es aber die Form einer Selbstverwirklichung nur für mich annimmt, ist es verfehlt. Und hier kommen wir in die heutige Zeit: Viele haben genug von der Kirche, ihren Skandalen und Querelen, wollen nichts mehr damit zu tun haben, treten aus.
Oder aber – das andere Extrem - sie ziehen sich zurück in die private Innerlichkeit oder in eine früher vermeintlich bessere Zeit mit alten Formen und Riten. Warum Martin sich aus der Kirchenöffentlichkeit in das Leben eines Einsiedlers zurückziehen wollte wissen wir nicht genau. Dass es nicht geklappt hat mit einem Glauben, so wie er es sich vorgestellt, wissen wir dagegen: Martin wird von dieser Kirche geholt. Die Stadt Tours braucht einen neuen Bischof und Martin war der richtige Mann. Vielleicht war es wirklich Bescheidenheit, dass er sich im Gänsestall oder wo auch immer versteckte, um nicht zum Bischof gewählt zu werden. Aber vielleicht wollte er auch sein heiliges Leben nicht mit der korrupten und oberflächlichen Kirche beflecken. Wenn ich mich jedoch auf Gott einlasse, komme ich an der von Jesus gestifteten Gemeinschaft der Glaubenden, komme ich an der Kirche nicht vorbei. Der Jesuit Martin Löwenstein hat es in einer Martinspredigt einmal so formuliert: „Um es noch einmal schärfer zu sagen: Wenn ich mich von der Kirche distanziere, ist dies nichts anderes als der Hochmut, zu glauben ich sei besser als die anderen. Es gibt viele Gründe in der Kirche heute, mit ihr zu brechen. In vergangenen Jahrhunderten gab es sogar noch weit mehr. Aber es gibt einen Grund, in ihr mein Heil zu sehen: Diese Kirche der Sünder, in der auch ich mit all meinen Schwächen und Fehler einen Platz habe, diese Kirche der Sünder ist die Weise, in der Gott gegenwärtig ist“.
Martin muss ein Mönchsein, sein Einsiedlerdasein aufgeben und sich mit ganz konkreten Probleme der damaligen Kirche befassen. Er muss sich die Hände schmutzig machen mit der damaligen Kirchenpolitik. Er flüchtet nicht, sondern stellt sich dieser Herausforderung. So wird in allen Querelen der damaligen Zeit zum Segen für die Menschen und für die Erneuerung der Kirche. Er bleibt bescheiden, scheut jedoch keine Offenheit und keine Mühen, um den einfachen Menschen, aber auch den Oberen seiner Zeit Wege der Versöhnung und des Friedens aufzuzeigen. Und das bis zuletzt: Als er in seiner Funktion als Bischof in eine Kirchengemeinde reist, um dort erfolgreich einen Streit zu schlichten, stirbt er dort am 8. November 397. Am 11. November wird er dann in seiner Bischofsstadt Tours in Frankreich beigesetzt.
Der heilige Martin als eine Figur aus der Kindheit, die vielen als menschenfreundlich in guter Erinnerung geblieben ist, die jedoch weit über die Kindheitserinnerungen hinausgeht:
Der heilige Martin als einer, der vorbehaltlos hilft und teilt ohne Ansehen von Person, Nation oder Religion.
Der heilige Martin als einer, der sich von Jesus persönlich ansprechen lässt, daraufhin grundlegend sein Leben ändert und zu seinem Glauben mit allen Konsequenzen steht.
Und der heilige Martin als einer, der sich trotz aller Widrigkeiten und berechtigen Vorbehalte nicht von der Kirche und von der Welt abwendet, sondern sich ganz in Dienst nehmen lässt für eine bessere Kirche und eine bessere Welt in Gottes Namen. Amen