Ein fantastisches Evangelium. Erst dieser so menschliche Jesus: nach all dem Spektakel, den Tausenden, die zusammengekommen waren und gar nicht mehr heimwollen, der Brotvermehrung: ein Jesus, der einfach einmal eine Auszeit braucht. Er schickt alle weg: erst die Jünger, dann die Menschen; und dann zieht er sich ganz allein auf einen nahen Berg zurück. Ich habe Ihnen ja letzten Sonntag schon von diesem wunderbaren Ort erzählt, am Ufer des Sees Genezareth, den der Deutsche Verein vom Heiligen Land 1889 gekauft hatte in der Hoffnung, dass es der Ort des historischen Kafarnaum sei. Dann aber hat man dort die Brotvermehrungskirche gefunden: den Ort der Brotvermehrung. Genau gegenüber ist der Berg, eigentlich eher ein Hügel, der sich hoch über den See erhebt. Unmittelbar unterhalb des Gipfels ist eine kleine Höhle, die einer der Benediktiner dort als die „Eremos-Höhle“ ausgemacht hat: den „einsamen Ort“, der mehrfach in den Evangelien erwähnt wird und an den sich Jesus immer wieder allein zurückzieht, um zu beten. In all dem Touristen- und Pilgertrubel heutzutage rund um den See ist das, weil sehr unwegsam, noch heute ein einsamer Ort. Wenn ich in Israel bin, bin ich immer dort. Ein unbeschreiblicher Ort. Und nach meinem letzten Besuch dort im März wird er mir auch immer in Erinnerung bleiben: beim Abstieg bin ich nämlich böse gestürzt, habe mir die Nase gebrochen, wahrscheinlich auch eine Rippe, zwei Zähne abgebrochen, und eine ordentliche Narbe quer über die Nase zurückbehalten. Wobei meine Dabbigkeit dem Ort aber nichts von seinem Zauber nimmt.
Das ist genau der Berg, die Höhle, an der ich mir das heutige Evangelium vorstelle. Von dort aus sieht Jesus über den See, sieht, wie allmählich die Sonne untergeht und die Nacht hereinbricht, sieht, wie das Unwetter aufzieht, sieht die Jünger in ihrem Boot gegen die Wellen kämpfen. Und dann geht er zu ihnen. Mitten über das Wasser. Wirklich ein fantastisches Evangelium. Wenn wir – rationale, aufgeklärte moderne Deutsche, einen solchen Text, ein solches Wunder hören, dann wissen wir gleich Bescheid: Mythos, natürlich keine Realität. Das muss man irgendwie psychologisch deuten, oder symbolisch oder wie auch immer.
Was für ein Quatsch! Wer genau hinhört, der merkt doch, dass dieses Evangelium so lebensnah und realistisch ist wie es nur sein kann. Das ist doch genau – eins zu eins - unsere Situation als Kirche: Gegenwind. Die Wellen schlagen bedrohlich über uns zusammen. Und das nicht erst seit den Missbrauchsdiskussionen. Kirchenaustritte auf dem Höchststand, Tendenz weiter steigend. Priesternachwuchs, überhaupt Menschen, die in der Kirche arbeiten wollen, die anpacken, auf dem Tiefststand. Tiefer geht es kaum noch. Nur eine armselige Handvoll noch im Boot, die sich abrackern und rudern und doch nicht vorankommen. Die Tausenden, die eben noch Jesus gebannt an den Lippen klebten, die voller Begeisterung die Brotvermehrung erlebt haben, sind wieder gegangen, haben sich zerstreut. Und irgendwie das Gefühl: selbst Jesus hat uns allein gelassen. Und dann dieser Jesus, der sich um Naturgesetze nicht schert. Der einfach, als wäre es das selbstverständlichste, übers Wasser geht. Und dann diese Worte, die ich am liebsten all den Bedenkenträgern in der Kirche heute, all denen, die nur noch Untergang, das Ende des Christentums, das Ende des Abendlandes sehen, jeden Tag zurufen möchte: „Habt Vertrauen! Fürchtet euch nicht!“
Was sind wir doch für eine furchtsame, jämmerlich-ängstliche Kirche geworden. Wenn Kirchenvertretern angesichts der Kirchenaustritte nichts mehr einfällt als darüber nachzudenken, vielleicht die Kirchensteuer herabzusetzen, also wie die Discounter eine Art Sonderangebot zu machen: also bitte, dann müssen wir uns doch als Kirche nicht wundern, wenn wir in den Augen der Menschen auch so wahrgenommen werden: als der letzte Ramschladen, kurz vor dem Ausverkauf. Mein Gott! Habt doch Vertrauen! Fürchtet euch nicht! Jesus ist doch bei uns. Er schert sich nicht um die Naturgesetze, er schert sich nicht um Umfragen und Prognosen, Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Bedarfsanalysen, Strategieplanungen und Pastoralkonzepte. Er geht einfach übers Wasser, um seinen Jüngern zu sagen: Ich bin doch da! Was fürchtet ihr euch?
Aber das tollste an diesem Evangelium ist für mich dieser Petrus. Es gibt ja in den Evangelien genug Stellen, an denen Petrus sich als der Feigling, der Schwache, der Zauderer zeigt. In unserem Hochaltar ist er so dargestellt: wie er Jesus aus Furcht verleugnet. Aber dieser Petrus im heutigen Evangelium: von dem können wir uns alle ein Scheibe abschneiden. Dieser Petrus, der auf Jesus schaut, auf ihn vertraut und den Mut hat, einfach aus dem Boot auszusteigen. „Komm!“ sagt Jesus. Und er zögert keine Sekunde. Kein Gedanke daran: Kann denn das funktionieren? Er steigt aus. Und das Wasser trägt! Er geht auf Jesus zu! Diesen Mut wünsche ich uns als Kirche. Einfach mal losgehen, auch wenn da kein Weg zu sein scheint! Und wenn ich „uns als Kirche“ sage, meine ich nicht nur die Bischöfe, die Hauptamtlichen, den Papst – die Institution. Ich meine wirklich uns alle, die wir alle, durch die Bank weg, oft so ängstlich sind. Ich wünsche mir eine Kirche, die gerade jetzt, wo wir Gegenwind haben, wo die Wellen uns durchschütteln, den Mut hat, einfach auf Jesu Wort hin auszusteigen, etwas zu riskieren, neue Wege zu gehen, etwas Neues, ja auch etwas total Verrücktes zu probieren. Hängen wir nicht viel zu sehr noch am Alten? An dem Bild, wie Kirche, wie Gemeinde früher war, wie wir es kennen, und hoffen und wünschen uns, dass alles wieder so werden soll? Nein, wie Petrus aussteigen, mit vollem Risiko, auch wenn da kein Weg ist; etwas Neues probieren.
„Bringt doch nichts!“ Höre ich die Vernünftigen, die Rationalen, die Strategen, die Besorgten gleich sagen: Man sieht doch am Petrus, wie es endet: er geht unter. Nein, wir müssen als Kirche weiter gegen den Wind rudern, erstmal einen tragfähigen Weg konzipieren, sonst gehen wir unweigerlich unter, meinen die. Aber die haben nicht verstanden, was uns dieses Evangelium lehrt. Petrus geht doch gar nicht unter!
Er geht übers Wasser auf Jesus zu. Solange er auf Jesus schaut, auf ihn vertraut, geht er nicht unter. Aber dann passiert es: er schaut nicht mehr auf Jesus. Er schaut wie gebannt auf die Wellen, er bemerkt auf einmal wieder den Wind, und er bekommt Angst. Jetzt erst beginnt er unterzugehen – und geht doch nicht unter. Indem er auf Jesus vertraut, ihm die Hand entgegenstreckt, ist er schon gerettet. Jesus lässt ihn doch nicht untergehen. Er lässt seine Kirche nicht untergehen.
Für mich ist das die Lehre aus diesem Evangelium: Solange wir auf Jesus schauen, solange wir Vertrauen haben und uns an ihm orientieren, werden wir wenn’s sein muss sogar übers Wasser gehen. Wer auf ihn vertraut, geht nicht unter! Der kann und darf auch Verrücktes ausprobieren und riskieren und wird die Erfahrung machen: das Wasser trägt! Aber wehe, wenn wir nur auf die Wellen, den Gegenwind schauen: dann gehen wir unweigerlich unter. „Ihr Kleingläubigen!“, sagt Jesus zu uns wie zum Petrus: „Warum zweifelt ihr?“ Ganz ehrlich: das Problem der Kirche heute ist nicht so sehr die angeblich die gottlose Gesellschaft, die Gleichgültigkeit, der Säkularismus, der zunehmende Egoismus und Hedonismus oder was auch immer. Auch nicht die Machtfrage, die Hierarchie, die Frauenfrage. Unser Problem ist unsere eigene Kleingläubigkeit. Das Gejammer über den Untergang. Unsere Ängstlichkeit und Resignation. Das fehlende Vertrauen. Ich wünsche mir die Kirche als ein Boot voller Typen wie Petrus. Die den Mut haben, auszusteigen und übers Wasser zu gehen. Und wenn sie dann mal untergehen, einfach die Hand nach Jesus austrecken im Vertrauen, dass er uns hält; und die es beim nächsten Mal wieder versuchen. Amen.