Schmuckband Kreuzgang

Brücken bauen statt Brandmauern: Gottes Strategie ist die des Gärtners, nicht der verbrannten Erde

Baum (c) Martina Bauer
Baum
Datum:
So. 16. Juni 2024
Von:
Tobias Schäfer

Predigt von Propst Tobias Schäfer

Warum die AfD für Christen nicht wählbar ist - und wir trotzdem die Wähler nicht ausgrenzen sollten

Eine Antwort auf den Ausgang der Wahlen

Lesung aus dem Buch Ezéchiel.
 
So spricht Gott,der Herr:
Ich selbst nehme vom hohen Wipfel der Zeder und setze ihn ein.
Einen zarten Zweig aus ihren obersten Ästen breche ich ab,
ich selbst pflanze ihn auf einen hohen und aufragenden Berg.
Auf dem hohen Berg Israels pflanze ich ihn.
Dort treibt er dann Zweige, er trägt Früchte und wird zur prächtigen Zeder.
Alle Vögel wohnen darin; alles, was Flügel hat, wohnt im Schatten ihrer Zweige.
Dann werden alle Bäume des Feldes erkennen, dass ich der HERR bin.
Ich mache den hohen Baum niedrig, den niedrigen Baum mache ich hoch.
Ich lasse den grünenden Baum verdorren, den verdorrten Baum lasse ich erblühen.
Ich, der HERR, habe gesprochen und ich führe es aus.

(Ez 17, 22-24)

Irgendwann wird der schönste, mächtigste Baum einmal morsch und faul. Dann genügt ein
kleiner Sturm, um ihn zusammenbrechen zu lassen. Ein gutes Beispiel ist der berühmte
Lutherbau in Pfiffligheim: schon zur Zeit Luthers stand er dort und er galt im 19
Jahrhundert als die mächtigste Ulme deutschlandweit - bis dann 1870 ein Orkan die
Baumkrone abbrechen ließ. Wenn ein Baum aber seine Krone verliert, dann beschleunigt
das das Ende. Um 1900 brach ein weiterer Teil der Krone ab; man versuchte zwar alles,
um den Baum zu sanieren, aber 1949 starb er schließlich endgültig ab. Heute erinnert nur noch der gewaltige Baumstumpf an ihn. Irgendwann ist eben auch der mächtigste Baum
morsch und marode.
Ist es mit unserer Demokratie, die uns fast 80 Jahre lang Frieden in Europa und Wohlstand
gesichert hat, eine Friedensphase, wie es so lange noch keine in der ganzen Geschichte
unseres Landes gegeben hat, jetzt soweit? Dass das System marode geworden ist, morsch
und allmählich zusammenbricht? Die Wahlen vom letzten Sonntag haben mich da sehr
erschüttert. Ich muss ehrlich sagen: das habe ich nicht erwartet: fast 20% der Stimmen für
die AfD im Stadtrat von Worms, jeder 5 also hat diese Partei gewählt. Bei der Europawahl
hier im Innenstadtbereich sogar fast 30%, in manchen Dörfern des Umlandes über 30%;
also jeder Dritte! Genauso erschütternd: nicht einmal 55% der Wahlberechtigten, also nur
etwas mehr als die Hälfte, ist überhaupt zur Wahl gegangen. Ist den anderen alles schon
egal? Ist unsere Demokratie schon so marode?
Keine Angst, ich will jetzt kein Wählerbashing betreiben: genau das macht ja unsere
Demokratie aus, dass es eine Wahl gibt, und dass jeder frei und geheim seine Stimme
abgeben darf - ohne Angst, dafür hinterher beschimpft oder verunglimpft zu werden. Von
daher halte ich auch Wählerbeschimpfungen für dumm und kontraproduktiv, etwa wenn
noch am Wahlabend die Nazi-Keule ausgepackt wird und alle Wähler der AfD als Nazis
oder mindestens Mitläufer in eine Ecke gestellt werden. Das Wahlergebnis zeigt auf eine
erschreckende Weise, wie tief gespalten unsere Gesellschaft ist. Und ich muss ehrlich
sagen, dass ich mich im Nachhinein selbst auch kritisch frage, ob die klare Ausgrenzung
der AfD als völlig undemokratisch, die Rede von Brandmauern, die aufgerichtet und
verstärkt werden müssen, nicht am Ende kontraproduktiv waren und weiter dazu
beigetragen haben, dass sich große Teile der Bevölkerung in ihren Sorgen, Ängsten, in
ihrer Enttäuschung nicht ernst genommen, nicht wahrgenommen fühlen. Und dann eben in der Wahl so reagiert haben.
Ich möchte keinen Zweifel lassen: ich halte diese Partei von ihren Werten, ihren Zielen,
ihren Programmen her als für einen Christen schlicht nicht wählbar: ein großer Teil der
Aussagen und Ziele, die ganze Ideologie dieser Partei widerspricht diametral dem Ethos
der Verkündigung Jesu, dem Ethos der Bergpredigt. Da wird Hass und Neid geschürt, da
werden Unterschiede gemacht im Blick auf Würde und Schutzbedürftigkeit von Menschen.
Das ist das Gegenteil von christlichem Verständnis. Und ich halte die AfD für
undemokratisch, latent gewaltbereit und eine Gefahr. Deshalb erschüttert mich ja das
Wahlergebnis auch so. Aber ich glaube auch, dass nicht jeder, der diese Partei gewählt hat,
so denkt oder gar die Demokratie abschaffen will. Das aber wollten viele, die in den 30er Jahren die Nazis gewählt haben, auch nicht. Und gerade deshalb muss es uns allen Angst
machen, wenn eine Partei, die immer wieder bewusst mit Naziparolen spielt und kokettiert,
in unserer Stadt und Region am Sonntag sogar ein besseres Ergebnis erzielt hat als die
Nazis bei den Wahlen 1930. Nur drei Jahre später fanden damals die letzten freien Wahlen
statt.
Ich weiß: eine Predigt ist kein Ort für Wahlanalysen und politische Statements. Darum
geht es mir auch nicht. Mir geht es darum, wie wir darauf reagieren, dass unsere
Gesellschaft so tief gespalten ist – unserer Stadtgesellschaft wohlgemerkt, die Menschen,
mit denen wir leben, unsere Nachbarn. Mir geht es darum, warum wir mit unseren
Themen, unserer Verkündigung von der Liebe Gottes zu allen Menschen, von der gleichen
Würde aller, gleich welcher Hautfarbe, Religion oder Kultur, der Botschaft von der Sorge
Gottes für die Armen, die Notleidenden, die Flüchtlinge und Verfolgten, die Menschen
offensichtlich nicht mehr erreichen. Sind das alles nur Sonntagssprüche, die im Alltag
unseres Lebens keine Rolle spielen? Ist die Bergpredigt ein frommer, utopischer Mythos,
ein Märchen, das für die Politik nicht taugt? Und anders herum: was können, was müssen
wir gerade als Christen dazu beitragen, um die Gräben zu überbrücken, um Brücken zu
bauen statt Brandmauern, die weiter ausgrenzen? Um gerade auch die Menschen zu
erreichen, die sich ausgrenzt, mit ihren Sorgen und Ängsten allein gelassen fühlen? Ist das
nicht unsere ureigene Aufgabe als Christen?
Und solche Fragen gehören meiner Meinung nach sehr wohl in eine Predigt, denn es geht
ja bei einer Predigt darum, zu fragen: Was will Gott von uns? Was hat er uns, was hat uns
die Bibel in dieser Situation zu sagen? Und ich finde, da passt das Bildwort von der alten,
morsch gewordenen Zeder, das uns in der heutigen alttestamentlichen Lesung vorgelegt
wird, sehr gut, ja es bekommt eine ganz eigene Aktualität. Denn tatsächlich war die
Situation des Volkes Israel nicht so anders. Nach einer friedvollen Phase der Blüte, des
Wohlstands, spaltet sich das Volk. Das Königreich von David und Salomon zerbricht. Die
Verwurzelung im Glauben an den einen Gott lässt nach. Schließlich wird das schwach und
morsch gewordene Land vom Großreich Babylon überfallen, der König wird verschleppt
und ein anderer König an seiner Stelle eingesetzt. Der Prophet Ezechiel beschreibt das im
Bild von der mächtigen Zeder, deren Baumkrone von einem großen Adler abgebrochen
und weggetragen wird. Ein Baum, dessen Krone abgebrochen ist, wird schnell faul und
morsch. Der neue König von Juda sucht sein Glück in waghalsigen Bündnissen, wirft sich
dem Pharao von Ägypten an den Hals – ganz ehrlich: ich finde so etwas unglaublich
aktuell, wenn ich im Hinterkopf habe, wie führende AfD-Leute mit Russland und China paktieren, die Nato und bewährte Bündnisse in Frage stellen. Ezechiel beschreibt, wie
abermals ein riesiger Adler kommt und ein weiteres Stück der Baumkrone herausreißt: eine Anspielung auf den abermaligen Überfall Babylons, das die Untreue des neuen Königs
bitter mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels straft und jetzt die ganze
Führungselite ins Exil nach Babylon verschleppt. Jetzt scheint die einst so prächtige Zeder
endgültig dem Untergang geweiht zu sein. Aber Gott lässt sie nicht einfach verfaulen und
absterben. In der heutigen Lesung wird beschrieben, wie Gott selbst aus dem Wipfel einen
zarten grünenden Zweig ausbricht und diesen an anderer Stelle einpflanzt, damit aus dem
maroden alten ein neuer, prächtiger Baum wachsen kann, in dessen Zweigen die Vögel
singen und in dessen Schatten sich alle Tiere wohlfühlen können.
Für mich ist das ein Hoffnungsbild: Der Gott, an den wir glauben, ist keiner, der die
Hoffnung aufgibt. Er ist auch keiner, der „tabula rasa“ macht, der den maroden Baum jetzt
umhauen würde, mit Stumpf und Stiel ausreißen. Sondern der ihn stehen lässt, aber
zugleich aus diesem Baum und gleichsam daneben einen neuen Baum großzieht. Und ich
glaube, das wäre auch in unserer Situation ein guter Weg: Jetzt nicht tabula rasa, schon
gar nicht alle Hoffnung fahren lassen nach dem Motto: Hat ja doch alles keinen Sinn, wenn
die Menschheit halt so dumm ist, wie sie ist; sondern schauen, was in dem Maroden noch
an Grünem, an Lebensfrohem, an Hoffnung gebendem drinsteckt, und das hegen und
pflegen, neu einpflanzen. Und dann, so lehrt uns die Bibel mit diesem Bild, dann blüht
neues Leben auf. Dann ist wieder Hoffnung.
7. Eine ähnliche Erfahrung machen wir ja momentan auch in der Kirche: auch als Kirche
dürfen wir uns durchaus in dem alten, marode und morsch gewordenen Baum erkennen. Es ist längst auch dem Letzten klar: wir müssen neue Wege gehen. Es geht nicht mehr einfach so weiter, wie es immer war. Auch nach all den Skandalen braucht es einen radikalen Neuanfang. Aber: Neuanfang - und das sagt mir dieses eindrucksvolle Gleichnis von der Zeder - kann und darf nicht heißen, alles Alte und Gewachsene, die ganzen bewährten
Traditionen, brutal abzuschneiden, auszuhauen und ganz neu anzufangen. Es geht darum,
aus dem Altbewährten heraus neue Ansätze zu wagen, neue Aufbrüche zu setzen. Die alte
Zeder darf den Neuanfang nicht behindern, vielmehr im Gegenteil: sie muss ihn
ermöglichen: aus ihrem Wipfel wird der Zweig ausgebrochen, aus dem Neues wachsen
kann. Und umgekehrt: der neue Baum ersetzt den alten nicht einfach. Beide wachsen
nebeneinander. So braucht es auch in der Kirche einen gesunden Ausgleich zwischen dem
Bewahren von guten Traditionen, die uns tragen, und dem Mut, Neues, Ungewohntes, vielleicht auch eher Fremdes zuzulassen und wachsen zu lassen. Und genauso könnte das
vielleicht der Weg sein, um die gespaltene Gesellschaft wieder zusammenzubringen.
Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, uns an Gott ein Beispiel zu nehmen: So wie
der junge Trieb neben der alten Zeder wachsen darf, so müsste auch in unseren
Gemeinden, in der Kirche und in der Gesellschaft ein Miteinander und ein gegenseitiges
Verständnis wachsen zwischen den Bedürfnissen derer, die Angst haben vor all den
Veränderungen, Angst vor fremden Kulturen, Angst, abgehängt zu werden, die sich nach
einfachen Lösungen sehnen, und zwischen denen, die in all dem nach neuen Wegen
suchen, die sich den immer komplexeren, globaleren, differenzierteren Problemen dieser
Welt zu stellen versuchen, auch mit dem Risiko, Fehler zu machen. Gott hat immer wieder
einen Neuanfang möglich gemacht – und zwar ohne das Altbewährte brutal umzuhauen.
Gott ist nicht der, der Mauern errichtet, sondern der Brücken baut. Gottes Politik ist nicht
die der verbrannten Erde, sondern die des Gärtners, der aus der alten Zeder den jungen
Trieb zieht. Gott traut uns zu, dass Neues wachsen kann, Neuaufbrüche und Versöhnung
möglich sind. Aber er braucht uns gleichsam als den Boden, in den hinein er den neuen
Trieb pflanzen kann. Amen.