Schmuckband Kreuzgang

Predigt zum Neuen Jahr

TE DEUM (c) Pfarrgemeinde Dom St. Peter und St. Martin / Martina Bauer
TE DEUM
Datum:
Fr. 1. Jan. 2021
Von:
Martina Bauer

Die Wunden vergolden

 

 

 

 

 

 

Ökumenischer Jahresschlussgottesdienst 2020zu: Lk 6, 35-36.47-49

Die Wunden vergolden

 

1. Kintsugi“ heißt ein japanischer Brauch, der dort unter anderem zum Neujahrsfest praktiziert wird. Eine Keramikschale oder Tasse wird am Ende des ausgehenden Jahres zerbrochen, um dann am Neujahrtag die Scherben wieder sorgsam zusammenzufügen und zu verleimen. Dabei wird ein ganz spezieller Leim oder Lack verwendet, in den Goldstaub eingestreut ist. Die „Narben“ bleiben so sichtbar – verklärt, vergoldet. Das zerbrochene und so wieder zusammengefügte Gefäß wird so viel kostbarer, wertvoller, individueller, als es das alte Stück war. Es zeigt die Spuren des Vergangenen, auch die Brüche, und ist doch zu etwas Kunstvollem, Neuen geworden. Was heute in Japan ein populärer Neujahrsbrauch ist, entstammt ursprünglich einer religiösen Bewegung des Zen-Buddhismus. Im 16. Jahrhundert, als die Vornehmen mehr und mehr ihren Luxus und Reichtum zelebrierten, sollte so eine Wertschätzung für das Einfache, das Fehlerhafte, das Zerbrochene und Verwundete deutlich werden.
2. Was ist in diesem ausgehenden Jahr nicht alles zerbrochen und kaputt gegangen. Corona hat viele unserer Pläne zerschlagen, durchkreuzt: in unseren Gemeinden, in unserer Stadt, in unserer Gesellschaft, ja weltweit. Wann, außerhalb von Kriegszeiten, wäre schon je das Backfischfest abgesagt worden? Oder Fastnacht, die Nibelungenfestspiele? Wann in der Geschichte gab es überhaupt eine Zeit, in der weltweit alle öffentlichen Gottesdienste abgesagt waren, und das über Ostern, unser höchstes Fest als Christen? Das Bild mit dem einsamen Papst auf dem Petersplatz vor dem uralten Pestkreuz ging um die Welt, und man musste nicht katholisch sein, um davon zutiefst berührt zu sein. In vielen Gemeinden sind jetzt auch Weihnachtsgottesdienste aus Vorsicht wieder abgesagt worden. Wie viele Existenzen von Einzelhändlern, Gastronomen, Gewerbetreibenden sind schon zerstört oder werden noch in die Brüche gehen? Wie viele Scherben hat Corona in unserer Welt verursacht: die Kranken, die Toten: mittlerweile mehr als 1,8 Millionen Menschen, die mit oder an Corona verstorben sind. Das vielleicht nachhaltigste aber ist unser menschliches Ego, das erhebliche Risse bekommen hat: unsere satte westliche Überheblichkeit, mit der wir bislang immer glaubten: so etwas passiert höchsten in Afrika oder in den sogenannten Entwicklungsländern, aber doch nicht einer reichen Industrienation, mit hochgerüsteter medizinischer Versorgung und Top-Forschungsinstituten. Wir haben doch alles im Griff, haben uns die Schöpfung längst wirksam untertan gemacht. Ein winzig kleines Virus hat unsere Überheblichkeit und Sorglosigkeit in tausend Scherben zerschellen lassen: wir haben gespürt, wie ohnmächtig und hilflos, wie gebrechlich und verwundbar wir Menschen doch allesamt sind. Ja, dieses ausgehende Jahr hinterlässt einen Haufen von Scherben an der Schwelle zu einem Neuen Jahr.
3. Wir haben aber auch uns Menschen besser kennengelernt. Dieses Virus, die Ausnahmesituation über so lange Zeit, hat auch zu Tage gebracht, was in uns Menschen schlummert: an Gutem, aber auch die hässlichen Seiten. Nach dem ersten Schock, der uns noch irgendwie alle solidarisch zusammenstehen ließ, ist diese Einmütigkeit schnell zerbröselt. Da waren die, die weiter auf Solidarität setzen, die aufmerksam gefragt haben: Was können wir tun, um die Situation zu verbessern? Um denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können? Da gab es ehrenamtliche Einkaufsdienste, Besuchsdienste, Telefonanrufe bei einsamen Menschen; da gab es Ehrenamtliche, die mit der Tafel einen Bringdienst organisierten, als die Bedürftigen sich ihre Lebensmittel nicht mehr abholen konnten. Da gab es die Erzieherinnen, die fantasievoll und kreativ überlegt haben, wie sie mit den Kindern, den Familien den Kontakt halten, als die Einrichtungen geschlossen waren; die Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Schüler jetzt per Internet unterrichteten und vieles mehr. Es gab andere, die schnell resignierten, die in Depressionen fielen, sich ganz zurückzogen, aus Angst, aus Einsamkeit. Es gab nicht wenige alte Menschen in den Altenheim, die in dieser Zeit, als die Heime sich abgeriegelt hatten, verstorben sind, nicht an Corona, sondern weil sie den Lebensmut verloren haben. Und es gab andere, die sich zu Wutbürgern mauserten; die Gefahr leugnen, Verschwörungstheorien entwickeln, in blindem, aggressiven Vandalismus in der Stadt manches einfach kurz und klein schlugen. Die gegen alle Vernunft auf die Straße gingen ohne Mundschutz, sich zu Widerstandkämpfern stilisierten, in unserem Staat plötzlich eine Diktatur sahen und so fort. Hier sind innerhalb unserer Gesellschaft auch manche Gräben aufgerissen: auch da ist viel zerbrochen, auch da sind Scherben und Brüche, die dieses Jahr hinterlassen hat.
4. Wie gehen wir damit um? Wie gehen wir jetzt in das NeueJahr? Es ist ja nicht so, dass wir das alles jetzt zurücklassenund einfach neu anfangen: neues Spiel, neues Glück. Corona wird uns noch einige Monate sicher begleiten, auch wenn es Grund zur Hoffnung gibt, dass sich die Lage allmählich entspannen könnte. Aber auch im neuen Jahr wird noch manches auf der Strecke bleiben: die Fastnacht ist schon abgesagt, der geplante Ökumenische Kirchentag in Frankfurt im Mai wird nur noch digital stattfinden. Die Verantwortlichen zittern, ob und was von all den Planungen zum großen Reichstagsjubiläum im kommenden Jahr stattfinden kann oder wie es stattfinden kann. Es ist noch lange nicht alles wieder normal. Auch im neuen Jahr wird es noch Scherben geben: Wer wird wann oder wie zuerst geimpft? Gibt es Vorteile für Geimpfte oder nicht? Was ist mit den Impfverweigerern? Schon jetzt deutet sich an, wo auch im kommenden Jahr noch manche Scherben und Brüche entstehen könnten. Wir werden den Scherbenhaufen nicht einfach aufkehren können und entsorgen und zum Alltag übergehen. Und wir sollten es auch nicht.
5. Kintsugi“ – das wäre ein guter, segensreicher Übergang ins Neue Jahr. Sich die Zeit nehmen, die Scherben aufzulesen, zu sortieren und Zerbrochenes wieder geduldig zusammenzufügen. Aber gerade nicht so, als wäre nichts gewesen, möglichst unsichtbar, dass nichts mehr an die Brüche erinnert. Sondern mit einem Kitt, der die Bruchstellen bewusst sichtbar lässt und veredelt, vergoldet. Die Erfahrungen aus diesem Jahr sollten wir mitnehmen: die guten wie die schlimmen, beängstigenden, bösen Erfahrungen. Aber eben mit Goldstaub zusammenfügen zu einem neuen Gefäß, einer Schale, die wir Gott hinhalten können, damit er sie von Neuem füllt, mit all dem an Erfahrungen, Begebenheiten, Ereignissen, die er im kommenden Jahr für uns bereit hält.
6. Wie kann das gelingen? Die Jahreslosung für das kommende Jahr ist für mich hier ein hervorragender Wegweiser. Es ist ein Wort aus dem Lukasevangelium (6,36): „Seid barmherzig, wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist! Seit 1930 wird für jedes Jahr eine Jahreslosung herausgegeben. Sie wird in einem aufwändigen Verfahren aus den verschiedenen Leseordnungen der beteiligten Kirchen ökumenisch ausgewählt, immer schon drei Jahre im Voraus. So ist auch die Jahreslosung für das kommende Jahr ganz sicher nicht von Corona inspiriert und passt doch genau in diese Situation im Übergang vom Ausnahmejahr 2020 zum Jahr 2021. „Seid barmherzig, wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist!“ Ja, die Barmherzigkeit ist der vergoldete Kitt, mit dem wir die Scherben des ausgehenden Jahres zusammenfügen können, mit der wir auch die auseinanderdriftende Gesellschaft wieder zusammenführen können. Barmherzig auf die Menschen schauen: das heißt, ihre Sorgen und Ängste, ihre Einsamkeit und Verzweiflung, auch ihren Mut, ihre Tatkraft, ihr Potential und ihre Möglichkeiten sehen und wahrnehmen, begreifen und verstehen, warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten, auch wenn ich ihre Meinungen und Ansichten und vielleicht ihr Verhalten nicht teilen und gutheißen kann. Aber wenn ich sie verstehen lerne, kann ich ihnen auch barmherzig, „warmherzig“ begegnen, und das verändert viel. Das macht Brüche nicht ungeschehen, aber es vergoldet, es veredelt sie, es lässt sie in einem anderen Licht erscheinen. Der Goldstaub in dem Kitt, mit dem wir versuchen, die Scherben zusammenzufügen: das ist Gottes Barmherzigkeit. Weil er mit uns Menschen so unglaubliche große Geduld hat, weil er uns liebt, deshalb lässt er uns nicht allein. Auch nicht in den ausweglosesten Situationen. An seiner Barmherzigkeit können und dürfen wir uns orientieren und ausrichten. Von seiner Barmherzigkeit und Liebe dürfen wir auch die Scherben in unserem Leben, in unserem Herzen, zusammenfügen lassen. Denn auch das steckt in diesem Wort: Wo unsere Kraft nicht ausreicht, die Scherben wieder zusammen zu fügen, da dürfen wir sie auch einfach Gott hinhalten, dass er sie zusammenfügt und neu verleimt – in seiner großen Barmherzigkeit.
7. Kintsugi: die Scherben zusammenfügen und daraus etwas Neues, Kostbares, Schönes entstehen lassen. Die Brüche, Wunden und Risse, die uns das Leben gerissen hat, machen durch den Goldstaub der Barmherzigkeit Gottes das neue Gefäß erst wertvoll, kostbar, individuell. Wo Corona den schönen Schein von der Unverwundbarkeit unserer Gesellschaft zerstört hat, da kann daraus ein von goldenen Brüchen durchwirktes neues Kunstwerk entstehen. Ich wünsche Ihnen für das Neue Jahr diese Erfahrung und Zuversicht: Wir müssen als Menschen, als Gemeinden, als Gesellschaft, als Welt unsere Brüche und Verletzungen nicht verstecken und kaschieren: wir dürfen sie selbstbewusst zeigen, weil da ein Gott ist, der gerade die Brüche mit seiner Barmherzigkeit mit Gold durchwirkt und so zu etwas Kostbarem wandeln kann. Wir dürfen Gott heute, am Ende des Jahres, alle Scherben hinhalten und ihn bitten, dass er sie zusammenfügt und zurückgibt als eine neue, kunstvolle, von vergoldeten Brüchen veredelte leere Schale, in die wir mit die Erfahrungen des neuen Jahres aufnehmen dürfen. Dazu gebe Gott seinen Segen. Amen.

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