Martin und Martina sind auf dem Heimweg von der Schule. Sie gehen wie jeden Tag durch den Park. Durch Zufall treffen sie Tante Sophia. Sie sitzt auf einer Bank neben dem Teich im Park und füttert die Enten. „Da ist Tante Sophia!“, ruft Martina. Martin ist verunsichert und still. Am liebsten möchte er sich verkriechen. Doch Tante Sophia hat die beiden schon erkannt. „Martin, du siehst ja ganz verweint aus. Was ist denn passiert?“, fragt Tante Sophia. Martin schweigt. „Hast du dich mit jemandem gestritten?“ „Nein“, stammelt Martin. „Willst du mir nicht sagen, was los ist?“, fragt Sophia weiter. Martin zögert, sagt dann aber ganz vorsichtig: „Du darfst es aber nicht Mama und Papa verraten.“ „Ehrenwort!“, verspricht Tante Sophia. „Ich habe eine Fünf in Mathe geschrieben und weiß nicht, wie ich es vor Mama und Papa verheimlichen kann.“ Tante Sophia überlegt eine Weile, dann erzählt sie Martin und Martina eine Geschichte:
„Als ich so alt war wie ihr jetzt, bin ich nur sehr ungern in die Schule gegangen. Ich glaube, ich war einfach faul. Aber ich erinnere mich sehr gut, als ich zwölf Jahre alt war und mich damals in ein Lügennetz verstrickt hatte. Angefangen hat es auch mit einer schlechten Arbeit. Ich hatte Angst, dass ich zu Hause bleiben und lernen müsste, wenn es mein Vater erfährt.“ „Das kenne ich!“, unterbricht Martin. „Dann kannst du sicher auch verstehen,“, sagt Tante Sophia, „dass ich das Heft einfach verschwinden ließ und die schlechte Note verschwieg.“ „Und dein Papa hat nichts gemerkt?“, fragt Martina. „Nein“, antwortet die Tante.
„Und dann kam die nächste Arbeit. Die fiel noch schlechter aus. Wieder beichtete ich die schlechte Note nicht zu Hause. Als mein Vater mich nach einiger Zeit nach den Arbeiten fragte, erfand ich irgendwelche Ausreden. „Ich habe das Heft ist in der Schule vergessen“, sagte ich oder „Es wurde eingesammelt, um zu kontrollieren, wer die Verbesserungen gemacht hat.“
„Das war ja ganz schön mutig“, sagt Martin. „Mutig war das eigentlich nicht“, antwortet Tante Sophia, „Ich hatte dabei ein ziemlich schlechtes Gewissen. Aber mein Vater gab sich eine ganze Weile mit den Ausreden zufrieden, bis eines Tags ein Brief eintraf. Mein Vater nahm ihn mit in sein Arbeitszimmer. Wenig später öffnete er die Tür und sagte ganz ruhig zu mir: „Sophia, komm doch mal herein.“ „Hast du da nicht Angst gehabt?“, fragt Martina dazwischen. „Und wie ich Angst hatte, mir klopfte das Herz bis zum Hals – ich wusste ja, dass ich gelogen hatte“, antwortete Tante Sophia. „Ich sah den Brief auf dem Schreibtisch liegen und erkannte sofort die Schrift meines Klassenlehrers. Mein Vater gab mir den Brief zu lesen. Es waren nur zwei Zeilen, in denen er zu einem Gespräch in die Schule gebeten wurde. „Komm setzt dich“, sagte mein Vater, „erzähl mir was los ist.“ Da konnte ich nicht mehr länger alles verschweigen. Es brach aus mir heraus. Ich erzählte alles.“
Sophia macht eine kleine Pause und erzählt dann weiter: „Ich war über mich selbst erschrocken: Was ich alles erzählt habe! Aber gleichzeitig war ich erleichtert, dass jetzt alles ausgesprochen war. Mein Vater hörte sich alles in Ruhe an und schaute mich sehr traurig an. Er sagt zu mir nur: „Du kannst jetzt gehen.“
Da musste ich weinen und verkroch mich in meinem Bett. Ich war traurig über mich und ich hatte Angst, dass mich mein Vater nicht mehr lieb haben könnte.“ „Das hätte ich in einer solchen Situation auch gemacht“, sagt Martin. „Wie ging’s dann weiter?“, fragt Martina neugierig. Tante Sophia lächelt: „Einige Zeit später hörte ich die Tür vom Arbeitszimmer meines Vater. Mein Vater kam in den ersten Stock herauf – ganz langsam, Stufe um Stufe. „Das ist ja richtig gruselig“, sagt Martin. Sophia nickt: „Ja, was meinst du, wie mir das Herz klopfte. Aber schon war er an meiner Tür angekommen. Vorsichtig öffnete er meine Tür und fragte leise: „Schläfst du schon?“ Er kam zu mir ans Bett, legte mir die Hand auf den Kopf und sagte zu mir: „Du musst nicht mehr weinen. Jetzt ist ja alles ausgesprochen.“ Dann gab er mir einen Kuss und sagte: „Ich hab dich immer lieb – egal was du gemacht hast. Das nächste Mal verschweigst du mir aber nichts mehr!“ Ich konnte nur nicken und mir war richtig warm vor Freude und vor Erleichterung und ich habe mir fest vorgenommen, nicht mehr zu lügen. Dann ging mein Vater. Er hat die Geschichte nie wieder erwähnt. Meine Schuld war vergeben.“
„Soll ich meine schlechte Note doch nicht verschweigen?“, fragt Martin. „Das musst du entscheiden“, sagt die Tante. „Das kann ich dir nicht abnehmen, aber eigentlich weißt du, was richtig wäre, oder?“ „Das ist aber ganz schön schwierig, die schlechte Note zu gestehen“, meint Martin. Martina ermutigt Martin: „Komm, probier es einfach, deine Mama und dein Papa werden dir schon nicht den Kopf abreißen.“
Die drei machen sich auf den Weg nach Hause. Am Rande des Parks kommen sie an einer Kirche vorbei. „Wenn ich an der Kirche vorbeikomme, denke ich häufig an die Geschichte, die ich euch eben erzählt habe“, sagt Tante Sophia. „Die Geschichte mit meinem Vater hat mir geholfen zu verstehen, was der Sinn einer Beichte ist.“
„Ja richtig“, überlegt Martina, „der Pfarrer lädt auch immer zur Beichte ein. Wie funktioniert das denn? Der weiß doch gar nicht, ob ich gelogen habe“, will Martina wissen.
„Dazu gehen wir am besten mal kurz in die Kirche“, sagt Tante Sophia. Die drei gehen hinein und schauen sich um. „Hier ist der Beichtstuhl“, zeigt Sophia. „In dem dunklen Kasten hast du gebeichtet?“, fragt Martin verwundert. „Da krieg ich ja Angst, wenn ich den schon sehe.“ „Das war früher so üblich, dass man den Beichtstuhl benutzte. Heute gehen viele Menschen zu einem Priester und sprechen mit ihm in einem Zimmer. Viele Kirchen haben deshalb ein Beichtzimmer“, beruhigt Tante Sophia Martin. „Wisst ihr, wichtig ist nicht, wo man beichtet, wichtig ist nur, dass man ehrlich zu sich selbst und zu Gott ist.“
„Warst du immer ehrlich?“ fragt Martina. „Ich habe es zumindest probiert. Ich habe vor der Beichte mein Gewissen erforscht, also überlegt, was ich falsch gemacht habe, und es hat mir leid getan, wenn ich Fehler gemacht habe. Da ich den Vorsatz hatte, es nicht wieder zu tun, konnte ich es auch dem Pfarrer sagen und mit ihm besprechen. Wenn er mir dann die Lossprechung erteilte, dann war dies ein große Erleichterung für mich.“ „Was heißt „Lossprechung“?, will Martina wissen. Tante Sophia antwortet: „Lossprechung bedeutet, dass der Pfarrer mir sagt, dass Gott mir vergibt. Das kann er tun, weil er Priester ist. Danach sind meine Fehler zwar nicht einfach verschwunden, aber mein schlechtes Gewissen, denn ich weiß, Gott hat mir vergeben.“ „Das ist ja schön für dich. Aber ich sag doch lieber gleich die Wahrheit und werde meine schlechte Note nicht verheimlichen“, meint Martin. Tante Sophia denkt kurz nach und sagt dann zu Martin: „Das ist der Sinn der Beichte. Möglichst nicht zu lügen oder Böses zu tun. Aber wenn es doch einmal passiert, dann weißt du, wo es Verzeihung und Versöhnung gibt.“
Autor(en): Wolfgang Fischer